Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 369

Santa Caterina di Siena (Lagerlöf, Selma)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 369

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SANTA CATERINA DI SIEN?. 369

er rasend vor Zorn, so wie man über Diebe und Räuber ausser sich
geräth. Die Schurken, die Schurken, das Leben wollten sie ihm nehmen!

Aber je mehr Zeit hinging, desto grösser wurde seine Trauer.
Er trauerte um Licht und Wasser, um Himmel und Erde. Er dachte,
dass er ein Bettler am Wege sein wollte, krank sein, hungern und
frieren wollte er, wenn er nur leben durfte.

Er wünschte, dass Alles mit ihm stürbe, dass nichts nach ihm
übrig bliebe. Das wäre ein grosser Trost gewesen.

Aber dass den nächsten Tag und alle Tage Leute auf den Markt
kommen würden und handeln und Frauen Wasser vom Brunnen holen
und Kinder über die Strasse laufen und er es nicht sehen sollte, das
konnte er nicht ertragen. Er beneidete nicht nur die, die prunken und
Feste feiern konnten und glücklich waren. Er beneidete ebensosehr
den elendsten Krüppel. Was er wollte, war einzig und allein das
Leben.

Da kamen Priester und Mönche zu ihm.

Er wurde beinahe froh, denn nun hatte er Jemanden, gegen den
er seinen Zorn kehren konnte. Er liess sie erst ein wenig reden, er
war begierig zu hören, was sie einem so verunrechteten Manne sagen
würden; aber als sie ihm sagten, er möge sich freuen, dass es ihm
vergönnt sei, in seiner blühenden Jugend aus dem Leben zu scheiden
und die himmlische Seligkeit zu gewinnen, da fuhr er auf und ergoss
seinen Zorn über sie. Er höhnte Gott und die Himmelsfreuden, er be-
durfte ihrer nicht. Das Leben wollte er und die Erde, Lust und Tand.
Er bereute jeden Tag, an dem er sich nicht in irdischen Freuden ge-
wälzt. Er bereute jede Versuchung, der er widerstanden. Was brauchte
Gott sich um ihn zu bekümmern. Er empfand keine Sehnsucht nach
seinem Himmel.

Doch als die Priester fortfuhren zu sprechen, packte er einen
von ihnen an der Brust und würde ihn getödtet haben, hätte sich nicht
der Kerkermeister dazwischen geworfen. Sie liessen ihn nun binden
und knebelten seinen Mund und predigten ihm, aber sobald er wieder
reden konnte, raste er wie zuvor. Sie arbeiteten stundenlang mit ihm,
doch sie sahen, dass nichts fruchtete.

Als sie sich gar keinen anderen Rath mehr wussten, da schlug
einer von ihnen vor, man möge die junge Caterina Benincasa zu ihm
senden, der eine grosse Macht eigen war, trotzige Sinne zu beugen.

Wie der Perugier diesen Namen hörte, hielt er mitten in seinem
Redestrom inne. In Wahrheit, das behagte ihn. Das war etwas ganz
Anderes, es mit einem jungen, schönen Mägdlein zu thun zu haben.

»Schickt mir die Jungfrau her,« sagte er.

Er wusste, dass sie eine junge Färberstochter war, die allein in
Strassen und Gässchen umherzog und predigte. Manche hielten sie für
wahnsinnig, Andere erzählten, dass sie Visionen hatte. Für ihn war sie
immerhin eine bessere Gesellschaft als diese schmutzigen Mönche, die
ihn ganz von Sinnen brachten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 369, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0369.html)