Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 370

Santa Caterina di Siena (Lagerlöf, Selma)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 370

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370 LAGERLÖF.

So gingen die Mönche ihrer Wege, und er blieb allein. Kurz
nachher öffnete sich die Thüre aufs Neue, aber wenn die Geholte jetzt
hereingekommen war, musste sie mit sehr leichten Schritten gegangen
sein, denn er hörte nichts. Er lag auf dem Boden, so wie er sich in
seinem grossen Unmuth hingeworfen, nun war er zu müde, um sich zu
erheben oder eine Bewegung zu machen oder auch nur aufzublicken.
Er hatte die Arme mit Stricken zusammengeschnürt, die tief ins Fleisch
einschnitten.

Nun fühlte er, wie Jemand begann, diese Stricke zu lösen, eine
warme Hand streifte seinen Arm, und er sah auf. Neben ihm lag ein
kleines Wesen in weisser Dominicanertracht, Kopf und Hals so in
weisse Schleier eingehüllt, dass von ihrem Antlitz gerade so viel sichtbar
wurde wie von dem eines Ritters, wenn er einen Helm trägt mit
heraufgeschlagenem Visir.

Sie sah gar nicht so fromm aus, sie war wohl leicht aufgebracht.
Er hörte, wie sie etwas murmelte von den Gefängnissknechten, die die
Stricke zugezogen. Es schien, als sei sie zu keinem anderen Zwecke
gekommen, als sich um die Knoten zu mühen. Sie war ganz davon
erfüllt, sie zu lösen, ohne ihm wehe zu thun. Endlich musste sie die
Zähne zu Hilfe nehmen, und da ging es. Sie schnürte den Strick mit
leichten Bewegungen auf, nahm dann die kleine Flasche, die sie am
Gürtel trug, und goss ein paar Tropfen daraus auf die zerschnittene Haut.

Er lag da und blickte sie immerzu an, aber sie begegnete seinem
Blicke nicht und schien nur auf das bedacht, das sie unter den Händen
hatte. Es war, als läge ihr nichts so ferne, als dass sie hier weilte,
um ihn zum Tode vorzubereiten.

Er war jetzt so ermüdet von seiner Aufwallung und gleichzeitig
so beruhigt durch ihre Gegenwart, dass er bloss sagte:

»Ich glaube, ich möchte schlafen.«

»Es ist eine wahre Schmach, dass sie dir kein Stroh gebracht
haben,« sagte sie.

Sie sah sich einen Augenblick unschlüssig um, dann kam sie und
liess sich auf dem Boden hinter ihm nieder und legte seinen Kopf auf
ihre Knie.

»Ist dir jetzt besser?« sagte sie.

Nie in seinem Leben hatte er sich so ruhevoll gefühlt.

Aber schlafen konnte er doch nicht, sondern er lag da und
blickte empor zu ihrem Antlitz, das gelblichweiss war und durchsichtig.
Solchen Augen war er nie zuvor begegnet. Sie blickten stets weit,
weit fort, sie sahen in eine andere Welt hinein, indess sie ganz unbe-
weglich dasass, um seinen Schlummer nicht zu stören.

»Du schläfst nicht, Nicola Fungo,« sagte sie und sah unruhig aus.

»Ich kann nicht schlafen,« erwiderte er, »denn ich liege da und
denke nach, wer du sein magst.«

»Ich bin die Tochter Luca Benincasa’s, des Färbers, und seiner
Ehefrau Lapa. Unser Haus liegt in der Thalsenkung unter dem Domini-
canerkloster.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 370, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0370.html)