Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 371

Santa Caterina di Siena (Lagerlöf, Selma)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 371

Text

SANTA CATERINA DI SIEN?. 371

»Ich weiss,« sagte er, »und ich weiss auch, dass du in den
Strassen umhergehst und predigst. Und dass du die Nonnentracht ge-
nommen und das Gelübde der Keuschheit abgelegt hast, weiss ich
auch. Aber dennoch weiss ich nicht, wer du bist.«

Sie wandte den Kopf ein wenig ab. Dann sagte sie flüsternd,
wie eine, die ihre erste Liebe bekennt:

»Ich bin Christi Braut.«

Er lachte nicht; doch er fühlte einen Stich im Herzen, ganz wie
vor Eifersucht. »Ah, Christus!« sagte er, als hätte sie sich weg-
geworfen.

Sie hörte, dass Verachtung im Tone lag, aber sie nahm es, als
meinte er, sie wäre vermessen.

»Ich begreife es selbst nicht,« sagte sie, »aber es ist so.«

»Das ist eine Einbildung oder ein Traum,« erwiderte er. Sie
wandte ihm ihr Antlitz zu. Es leuchtete rosig von dem Blute, das
unter der durchsichtigen Haut aufgestiegen war. Es dünkte ihm mit
einemmale, dass sie schön sei wie eine Blume, und er wurde ihr gut.
Sie rührte die Lippen, wie um zu sprechen, doch es kam kein Laut
über sie.

»Wie soll ich das glauben können?« beharrte er.

»Ist es dir nicht genug, dass ich hier bei dir im Kerker bin?«
fragte sie mit erhobener Stimme. »Ist es eine Freude für ein junges
Mägdelein, wie ich es bin, zu dir und zu anderen Verbrechern in ihre
trüben Gefängnisshöhlen zu gehen, geziemt es sich wohl einem Weibe,
in den Strassenecken zu stehen und zu predigen, eine Zielscheibe allen
Hohns? Brauche ich nicht Schlaf wie Andere und muss doch jede
Nacht aufstehen und zu den Kranken des Hospitales gehen? Habe ich
nicht Furcht wie andere und muss doch zu den hochfürnehmen Herren
wandern auf ihr Schloss und ihnen ins Gewissen sprechen? Zu den
Pestkranken muss ich gehen, alle Laster, alle Sünde schauen. Wann
sahst du je eine Jungfrau all dies thun? Und ich muss es doch.«

»Ach, du Arme,« sagte er und strich sachte über ihre Hand.
»Du Arme.«

»Denn ich bin nicht kühner oder klüger oder stärker als irgend
eine Andere,« sagte sie. »Es fällt mir ebenso schwer, wie allen anderen
Jungfrauen. Du siehst es ja. Bin ich nicht hergekommen, um mit dir
von deiner Seele zu reden, und habe doch gar nicht gewusst, was ich
dir sagen soll.«

Es war wunderlich, wie ungerne er sich überzeugen liess. »Du
magst dich dennoch irren,« sagte er. »Woher weisst du, dass du dich
Christi Braut nennen kannst?«

Ihre Stimme begann zu beben, und es war, als müsste sie sich
das Herz aus der Brust reissen, indem sie antwortete:

»Es fing zeitlich bei mir an, ich war nicht mehr als sechs Jahre
alt. Da ging ich eines Abends mit meinem Bruder über die Wiese
unter der Dominicanerkirche, und gerade wie ich meine Augen zur
Kirche erhob, sah ich Christus auf einem Thron sitzen, umgeben von

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 371, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0371.html)