Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 372
Text
aller Macht und Herrlichkeit. Er war in leuchtende Gewänder gekleidet
wie der heilige Vater in Rom, sein Haupt war von paradiesischem
Lichte umgeben, und rings um ihn standen Pietro, Paolo und Giovanni
der Evangelist. Und wie ich ihn betrachtete, da drang in mein Herz
eine solche Liebe und heilige Wollust ein, dass ich es kaum zu ertragen
vermochte. Er erhob die Hand und segnete mich, und ich sank zu
Boden und war so entzückt vor Seligkeit, dass mein Bruder mich beim
Arme ergriff und schüttelte. Seither, Nicola Fungo, habe ich Jesus
geliebt wie meinen Bräutigam.«
Doch er wendete wieder ein: »Du warst ein Kind damals. Du
bist auf der Wiese eingeschlafen und hast geträumt.«
»Geträumt,« wiederholte sie, »sollte ich wohl alle die Male ge-
träumt haben, da ich ihn gesehen? Sollte es ein Traum sein, als er
in der Kirche zu mir kam in Gestalt eines Bettlers und mich um ein
Almosen bat. Da war ich doch ganz wach. Und hätte ich nur um
eines Traumes willen durch so viel Leiden gehen können, als mir
jungem Mägdlein widerfuhr, weil ich keine Ehe schliessen wollte?«
Doch Nicola blieb noch hartnäckig, denn er konnte es nicht
ertragen, dass sie umherging und eine andere Liebe im Herzen trug.
»Aber wenn du auch Christus liebst, o Jungfrau, woher weisst du,
dass er dich wiederliebt?«
Sie lächelte ihr fröhlichstes Lächeln und schlug die Hände zu-
sammen wie ein Kind. »Das sollst du hören, das sollst du hören,«
sagte sie. »Nun will ich dir das Allerwichtigste sagen. Es war eine
Nacht in der Fasten. Ich hatte Frieden mit den Eltern geschlossen
und ihre Erlaubniss erwirkt, das Gelübde der Keuschheit abzulegen
und die Nonnentracht zu nehmen, obgleich ich noch stets in ihrem
Hause wohnte. Und es war Nacht, wie ich dir gesagt, aber es war die
letzte des Carnevals, so dass Alle die Nacht zum Tage machten. Es
war ein Fest auf allen Gassen, die Balkone hingen wie Vogelbauer an
den Mauern der grossen Paläste und waren ganz mit seidenen Tüchern
und Fahnen verkleidet und mit edlen Damen besetzt. Ich sah all ihre
Schönheit im Schimmer der rothen, rauchenden Fackeln, die in Bronze-
hältern staken, Reihe um Reihe, bis hinauf zum Dachfirst. Doch über
die bunten Gassen kamen die Fahrenden in Wagen, und alle Götter
und Göttinnen und alle Tugenden und Schönheiten wallten in langen
Zügen dahin. Aber dazwischen gab es ein Spiel der Masken und eine
Lustigkeit, so dass du nie, o Herr, bei etwas Fröhlicherem warst. Und
ich floh in meine Kammer, aber ich hörte doch das Gelächter von
der Strasse, und nie habe ich Menschen so lachen hören, es war so
lieblich und klangvoll, dass die ganze Welt mitlachen musste, und sie
sangen Weisen, die gewiss böse waren, aber sie klangen so unschuldig
und brachten solche Freude mit sich, dass das Herz erzitterte, so dass
ich mitten im Gebete mich fragen musste, warum ich nicht mit dort
draussen war, und es zog und lockte mich so unwiderstehlich, als wäre
ich an ein scheues Pferd gebunden. Aber nie zuvor habe ich so zu
Christus gebetet, dass er mir zeigen möge, was sein Wille mit mir sei.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 372, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0372.html)