Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 373

Santa Caterina di Siena (Lagerlöf, Selma)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 373

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SANTA CATERINA DI SIENA. 373

Und da hörte plötzlich aller Lärm auf. Eine grosse, wunderbare Stille
war um mich, und ich sah eine grüne Wiese, wo die Gottesmutter
unter Blumen sass, und in ihrem Schosse lag das Jesuskind und spielte
mit Lilien. Und ich eilte hinzu mit grossen Freuden und sank auf die
Knie vor dem Kinde und war plötzlich voll Frieden und Ruhe, und
da schob das heilige Kind einen Ring auf meinen Finger und sagte
zu mir: ‚Wisse es, Caterina, dass ich heute mit dir mein Verlobungs-
fest feiere und dich an mich binde mit der stärksten Treue!‘«

»O, Caterina!«

Der junge Perugier hatte sich auf dem Boden umgedreht, so dass
er sein Antlitz in ihrem Schoss vergraben konnte. Es war, als ertrüge
er es nicht, zu sehen, wie sie strahlte, während sie sprach, und wie
die Augen wie klar schimmernde Sterne wurden. Es gingen Schmerzens-
schauer durch seinen Körper.

Denn indess sie sprach, war ein grosser Kummer in ihm auf-
gekeimt. Das kleine Jungfräulein, das weisse, kleine Jungfräulein, das
sollte er niemals gewinnen. Ihre Liebe gehörte einem Anderen an,
konnte nie sein werden. Es lohnte nicht einmal, ihr zu sagen, dass er
ihr gut war. Aber er litt, sein ganzes Wesen zitterte in Liebesqual. Wie
sollte er leben können ohne sie? Da fuhr er auf. Er war zum Tode
verurtheilt. Er brauchte nicht zu leben und sie zu entbehren.

Nun stiess das Mägdlein hinter ihm einen tiefen Seufzer aus und
kehrte von den Himmelsfreuden zurück, um an die armen Menschen
zu denken. »Ich vergesse, mit dir von deiner Seele zu sprechen,« sagte
sie. Da dachte er: Sieh’, diese Bürde kann ich ihr doch erleichtern.

»Schwester Caterina,« sagte er, »ich weiss nicht, welcher himmli-
sche Trost sich auf mich gesenkt hat. In Gottes Namen, ich will mich
auf den Tod vorbereiten. Da kannst Priester und Mönche rufen, und
ich werde ihnen beichten. Aber Eines musst du mir geloben, bevor
du gehst. Du wirst zu mir kommen, morgen, wenn ich sterben soll, und
wirst meinen Kopf zwischen deinen Händen halten, so wie du es
jetzt thust.«

Als er dies sagte, begann sie zu weinen, und eine unsägliche
Freude erfüllte sie. »Nicola Fungo, wie glücklich bist du!« sagte sie,
»du kommst vor mir ins Paradies.« Und sie liebkoste ihn mit grosser
Zärtlichkeit.

Und er sagte wieder: »Du kommst zu mir, morgen, auf den
Marktplatz. Vielleicht werde ich sonst bange. Vielleicht kann ich nicht
mit Standhaftigkeit sterben. Aber wenn du da bist, werde ich nur
Freude empfinden, und alle Furcht wird von mir weichen.«

»Ich sehe dich nicht mehr als ein armes Menschenkind,« sagte
sie, »als ein Einwohner des Himmels erscheinst du mir. Es ist mir, als
strahltest du Licht aus, als umschwebte dich Weihrauch. Es strömt
auf mich Seligkeit über von dir, der du so bald dem geliebten Bräutigam
begegnen wirst. Sei gewiss, ich werde kommen und dich sterben sehen.«
Hierauf führte sie ihn zu Beichte und Abendmahl. Er machte es durch
wie ein Schlummernder, Todesfurcht und Lebenssehnsucht hatten ihn

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 373, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0373.html)