Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 374

Santa Caterina di Siena (Lagerlöf, Selma)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 374

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374 LAGERLÖF.

verlassen. Er wünschte den Morgen herbei, an dem er sie wieder sehen
sollte, er dachte bloss an sie und an die Liebe, die ihn für sie erfasst.
Zu sterben dünkte ihm jetzt etwas ganz Geringes gegen den Schmerz,
dass sie ihn niemals lieben würde.

Die Jungfrau schlief nicht viel in dieser Nacht, und zeitlich
Morgens war sie auf dem Richtplatz, um seiner zu harren. Sie rief un-
ablässig Jesu Mutter an, Maria, und die heilige Katharina von Egypten,
die Jungfrau und Märtyrerin, seine Seele zu retten. Unablässig sagte
sie: »Ich will, dass er erlöst werde, ich will, ich will.«

Aber sie hatte Angst, dass ihre Gebete fruchtlos sein würden,
denn sie empfand nicht mehr jene Begeisterung, die am vorigen Abend
über ihr gewesen, nur ein unsägliches Mitleid fühlte sie mit ihm, der
sterben sollte. Bloss Kummer und Schmerz waren über ihr.

Langsam füllte sich der Marktplatz mit Menschen. Die Henkers-
knechte marschirten auf, die Büttel kamen, es war Lärm und Geplauder
ringsum, aber sie merkte und hörte nichts. Ihr war, als wäre sie ganz
allein. Als er kam, ging es ihm ebenso. Er hatte keine Gedanken an
all die Anderen, er sah bloss sie. Aber als er beim ersten Blicke sah,
wie ihr Antlitz aufgelöst war in Schmerz, da leuchtete er auf und
wurde beinahe froh. Und laut rief er ihr zu: »Heute Nacht hast du
nicht geschlafen, Jungfrau.«

»Nein,« sagte sie, »ich habe im Gebet für dich gewacht, aber
jetzt bin ich in Verzweiflung, denn meine Gebete haben keine Kraft.«

Er liess sich auf den Richtblock nieder, und sie lag auf den
Knien davor, damit sie seinen Kopf zwischen ihren Händen halten
konnte.

»Nun ziehe ich aus, deinem Bräutigam zu begegnen, Caterina.«

Sie schluchzte immer heftiger. »Ich kann dich so schlecht trösten,«
sagte sie.

Er sah sie an mit einem wunderbaren Lächeln. »Deine Thränen
sind mein bester Trost.«

Der Büttel stand neben ihnen mit gezogenem Schwert, aber sie
winkte ihn zurück, um noch einige Worte mit dem Verurtheilten zu
sprechen.

»Bevor du kamst,« sagte sie, »legte ich mich hier auf diesen
Richtblock hin, um zu versuchen, ob ich es ertragen könnte. Und da
fühlte ich, dass ich noch Grauen vor dem Tode hatte, dass ich Jesus
nicht genug liebe, um in dieser Stunde sterben zu wollen. Und ich
will auch nicht, dass du sterben sollst, und meine Gebete haben keine
Kraft.«

Als sie dieses gesagt, dachte er: Wenn es mir vergönnt gewesen
wäre, zu leben, würde ich sie dennoch gewonnen haben, und er war
froh, dass er sterben sollte, bevor es ihm gelungen war, die strahlende
Himmelsbraut zur Erde hinabzuziehen.

Aber als er seinen Kopf in ihre Hände gelegt, da kam über sie
Beide ein grosser Trost. »Nicola Fungo,« sagte sie, »ich sehe den
Himmel sich aufthun. Engel schweben hinab, um deine Seele zu em-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 374, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0374.html)