Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 377

Ueber die Frauen (Maeterlinck, Maurice)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 377

Text

ÜBER DIE FRAUEN.
Von Maurice Maeterlinck (Gent).
Autorisirte Uebersetzung von Clara Theumann.

Hier wie überall sind die Gesetze unbekannt. Ueber unseren
Häuptern glänzt inmitten des Firmaments der Stern jener Liebe, welche
uns vorher bestimmt ist, und eine jede unserer Neigungen wird bis
zum Weltenende aus den Strahlen dieses Sternes erstehen. Vergebens
werden wir rechts oder links, in den Höhen oder Niederungen wählen,
vergebens werden wir, um aus dem Zauberkreis herauszukommen, den
wir um alle unsere Lebensäusserungen gezogen fühlen, unseren Instinct
vergewaltigen und eine Wahl gegen die unseres Sternes zu treffen ver-
suchen — wir werden doch immer die vom unsichtbaren Gestirn
herabgestiegene Frau erküren. Und wenn wir gleich Don Juan ein-
tausenddrei Frauen küssen, werden wir an jenem Abend, an dem die
Arme sich lösen und die Lippen sich trennen, einsehen, dass immer
dieselbe Frau vor uns ist, die gute oder die böse, die zärtliche oder
die grausame, die liebende oder die ungetreue.

In Wirklichkeit treten wir nie aus dem kleinen Lichtkreis, den
das Schicksal um unsere Schritte gezogen hat, und man könnte glauben,
dass die entferntesten Menschen die Nuance und die Ausdehnung dieses
unüberschreitbaren Ringes kennen. Sie sehen vor Allem die Schattirung
dieser geistigen Strahlen, und je nach derselben reichen sie uns lächelnd
die Hand oder ziehen sie angstvoll zurück. Wir kennen uns Alle in
einer höheren Sphäre, und die Vorstellung, die ich mir von einem
Unbekannten mache, hat directen Antheil an einer geheimnissvollen
und weit tieferen Wahrheit, als es die materielle ist. Wer hat nicht
jene Dinge empfunden, welche in den undurchdringlichen Regionen der
fast der Sternenwelt angehörigen Menschheit vor sich gehen? Wenn
Ihr einen Brief von einer im grossen Ocean verlorenen Insel erhaltet,
der von einer Euch unbekannten Hand geschrieben ist, seid Ihr dann
ganz sicher, dass ein Unbekannter Euch schreibt, und fühlt Ihr nicht
beim Lesen über die Seele, der Ihr so — die Götter wissen, in
welchen Sphären — begegnet, unfehlbarere und bedeutendere Gewiss-
heiten in Euch auftauchen, als es alle gewöhnlichen Gewissheiten sind?
Und glaubt Ihr nicht andererseits, dass diese Seele, die, losgelöst von
Raum und Zeit, an die Eure dachte, glaubt Ihr nicht, dass auch sie
ähnliche Gewissheiten in sich fühlte? Ueberall und allerorten gibt es
merkwürdige Erkennungen, und wir können unsere Existenz nicht ver-
bergen. Nichts scheint die subtilen Bande, die zwischen allen Seelen
bestehen, deutlicher zu beleuchten als diese kleinen Mysterien, die den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 377, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0377.html)