Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 378

Ueber die Frauen (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 378

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378 MAETERLINCK.

Austausch einiger Briefe zwischen zwei Unbekannten begleiten. Es
ist vielleicht eine jener engen Spalten — eine sehr geringfügige ge-
wiss, aber es gibt deren so wenige, dass wir uns mit den mattesten
Strahlen begnügen müssen — eine jener engen Spalten in der Pforte
der Dunkelheit, die uns einen Augenblick ahnen lässt, was in der
Grotte der unentdeckten Schätze vor sich gehen mag. Prüfet die
gleichgiltige Correspondenz eines Menschen, und Ihr werdet eine ge-
wisse merkwürdige Einheit darin finden. Ich kenne weder den Einen,
noch den Anderen, die mich heute Morgen etwas fragen, und doch
weiss ich schon, dass ich dem Ersten nicht so werde antworten können
wie dem Zweiten. Ich habe etwas Unsichtbares gesehen. Und anderer-
seits bin ich sicher, dass, wenn Jemand mir schreibt, den ich nie ge-
sehen habe, sein Brief nicht genau so sein wird wie der, den er
meinem Freund geschrieben hätte. Es wird da immer einen ungreif-
baren geistigen Unterschied geben. Es ist der Wink einer Seele, die
unsichtbar eine andere Seele grüsst. Wir müssen glauben, dass wir
uns in unbestimmten Regionen kennen, und dass wir ein gemeinschaft-
liches Vaterland besitzen, in das wir gehen, in dem wir uns wiederfinden
und aus dem wir mühelos zurückkehren.

In diesem gemeinsamen Vaterland wählen wir auch unsere Ge-
liebten, und deshalb täuschen wir uns nicht, und auch sie täuschen
sich nicht. Das Reich der Liebe ist vor Allem das grosse Reich der
Gewissheiten, denn es ist jenes, in dem die Seelen am meisten Musse
haben. Hier haben sie wirklich nichts zu thun, als sich zu erkennen,
sich andächtig zu bewundern und sich mit Thränen in den Augen zu
befragen wie junge Schwestern, die sich wiederfinden, während die Arme
sich umschlingen und die Lippen sich begegnen.

Endlich haben sie im Waffenstillstand des harten, täglichen Lebens
Zeit, sich zuzulächeln und einen Augenblick für sich zu leben, und
vielleicht verbreitet sich gerade aus diesem Lächeln und aus diesen
unbeschreiblichen Blicken über die ödesten Augenblicke der Liebe jener
geheimnissvolle Duft, der die Erinnerung an das Begegnen zweier
Lippenpaare unauslöschlich macht.

Aber ich spreche hier nur von der vorherbestimmten und wahren
Liebe. Wenn wir eine jener finden, welche das Schicksal uns auf-
bewahrt hat und welche es uns aus den grossen geistigen Städten, in
denen wir unbewusst leben, auf den Kreuzungspunkt des Weges sendet,
an dem wir zur bestimmten Stunde vorbei kommen müssen — dann
wissen wir es beim ersten Blick.

Manche versuchen dann, dem Schicksal Gewalt anzuthun. Es ist
ja möglich, dass wir wüthend die Hand auf die Augen legen, um
nicht mehr zu sehen, was wir sehen mussten, und dass wir im Kampfe
aller unserer kleinen Kräfte gegen ewige Mächte endlich dahin ge-
langen, den Weg zu durchschreiten, und einer Anderen, nicht für uns
Entsendeten entgegengehen. Aber es wird vergebens sein; es wird
uns nie gelingen, »das todte Wasser in den grossen Becken der Zu-
kunft in Aufruhr zu bringen«. Es wird nichts geschehen; die reine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 378, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0378.html)