Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 379
Text
Kraft der Höhen wird nicht herabsteigen wollen, und die Küsse sowie
diese unnützen Stunden werden sich nie den wirklichen Stunden und
Küssen unseres Lebens anfügen.
Das Schicksal schliesst manchmal die Augen, aber es weiss gut,
dass wir des Abends zu ihm zurückkehren werden, dass es stets das
letzte Wort haben wird. Es kann wohl die Augen schliessen, aber die
Zeit, während welcher es sie schliesst, ist Zeit, die verloren geht im
Weltenraume.
Es scheint, dass die Frau mehr als wir dem Schicksal unter-
worfen ist. Sie erträgt es mit grösserer Einfachheit. Sie kämpft nie
ernstlich dagegen an. Sie ist noch den Göttern näher und gibt sich
rückhaltloser den reinen Vorgängen des Mysteriums hin. Deshalb
scheinen wahrscheinlich auch alle Ereignisse, in denen sie sich unserem
Leben beigesellt, uns zu jenem Ungewissen zurückzuführen, das den
Urquellen des Schicksals gleicht. Namentlich in der Nähe der Frau
hat man augenblicklich und vorübergehend manchmal »eine lichte Ahnung«
eines Lebens, das nicht immer Schritt zu halten scheint mit dem
äusseren Leben. Sie bringt uns den Pforten unseres Wesens näher.
Wer weiss, ob die Helden nicht in einem jener Augenblicke, wo sie
an ihrer Schulter lehnten, die Macht und Unwandelbarkeit ihres
Sternes kennen lernten, und ob der Mann, der nie an einem Frauen-
herzen geruht, je das genaue Verständniss für die Zukunft haben wird?
Wieder treten wir hier in die verschwommenen Kreise des
höheren Bewusstseins. O, wie wahr ist es auch hier, »dass die so-
genannte Psychologie eine jener Larven ist, die im Allerheiligsten den
für die wirklichen Götterbilder aufbewahrten Platz usurpirt haben«!
Denn es handelt sich nicht immer um die Oberfläche, es handelt sich
nicht einmal um die ernstesten Hintergedanken. Glaubt Ihr denn, dass
es in der Liebe nichts als Gedanken, Handlungen und Worte gibt,
dass die Seelen nicht aus diesen Kerkern heraustreten? Brauche ich
denn zu wissen, ob Jene, die ich heute küsse, eifersüchtig und treu,
lachend oder traurig, aufrichtig oder treulos ist? Denkt Ihr denn, dass
diese kleinen, geringfügigen Worte bis zu den Gipfeln steigen, wo
unsere Seelen thronen und unser Schicksal sich lautlos vollzieht? Was
liegt mir daran, ob sie von Regen oder Juwelen, von Federn oder
Nadeln spricht und aussieht, als ob sie mich nicht verstände; glaubt
Ihr denn, dass ich mich nach einem erhabenen Worte sehne, wenn ich
fühle, dass eine Seele in meine Seele blickt, glaubt Ihr, ich weiss nicht,
dass die wunderbarsten Gedanken nicht das Recht haben, das Haupt
zu erheben angesichts der Geheimnisse? Ich bin immer am Meeresrand;
und wenn ich Plato, Pascal oder Michelangelo wäre und meine Ge-
liebte mir von ihren Ohrgehängen spräche, würde Alles, was ich sage,
Alles, was sie mir sagt, gleicherweise auf den Tiefen jenes Innenmeeres
schweben, das wir ineinander bewundern. Mein höchster Gedanke wird
in der Waage des Lebens oder der Liebe nicht tiefer ins Gewicht fallen
als die drei kleinen Worte, welche das Kind, das mich liebt, mir über
seine Silberringe, sein Perlen- oder Glashalsband sagt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 379, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0379.html)