Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 380
Text
Wir verstehen nicht, weil wir immer in den Niederungen des
Intellectes sind. Steiget nur bis zu dem ersten Schnee der Berge, und
alle Ungleichheiten werden unter der läuternden Hand des sich er-
öffnenden Horizontes geebnet erscheinen. Welcher Unterschied ist dann
zwischen einem Worte Marc Aurel’s und dem eines Kindes, das con-
statirt, dass es kalt ist? Seien wir demüthig und unterscheiden wir das
Nebensächliche vom Wesentlichen. Wir müssen nicht wegen des in
den Lüften Schwebenden die Wunder des Abgrunds vergessen. Die
schönsten Gedanken und die niedrigsten ändern nicht mehr das ewige
Aussehen unserer Seele, als das Himalayagebirge oder die Abgründe
das Aussehen unserer Erde für die Gestirne umwandelt. Ein Blick,
ein Kuss, die Gewissheit, dass unsichtbar und mächtig eine andere
Seele gegenwärtig ist, und Alles ist gesagt; ich weiss, dass ich einer
mir Gleichen zur Seite stehe.
Diese mir Gleiche ist wirklich wunderbar und merkwürdig; die
letzte der Dirnen besitzt, sobald sie liebt, etwas, was wir nie haben,
weil in ihrem Geist die Liebe immer ewig ist. Haben sie deshalb
Alle zu den primitiven Mächten Beziehungen, die uns versagt sind?
Die Besten unter uns sind fast immer weit entfernt von den Schätzen
ihres Allerheiligsten; und wenn ein feierlicher Augenblick des Lebens
einen der Juwelen aus diesem Schatze fordert, erinnern sie sich nicht
mehr an die Pfade, die hinführen, und vergebens bieten sie falsche
Schmucksteine ihres Intellects dem herrschenden, untrügerischen Augen-
blick. Die Frau aber vergisst nie den Weg, der zu ihrem Centrum
führt, und ob ich sie jetzt in Wohlleben oder Elend, in Unwissen
oder Weisheit, in Schmach oder Ruhm antreffe, sie wird, wenn ich
ihr nur ein Wort sage, das wirklich aus den jungfräulichen Abgründen
meiner Seele emporsteigt, die geheimnissvollen Pfade auffinden, die sie
nie aus den Augen verloren hat, und ohne Zögern mir einfach
aus den unerschöpflichen Quellen der Liebe ein Wort, einen Blick,
eine Geberde entgegenbringen, die ebenso lauter sein werden wie
die meinigen. Man könnte glauben, sie brauche stets nur mit der
Hand nach ihrer Seele zu langen; sie ist Tag und Nacht bereit,
den höchsten Forderungen einer anderen Seele zu entsprechen, und
das Lösegeld der Aermsten unterscheidet sich nicht von dem der
Königinnen.
Nähern wir uns ehrfurchtsvoll den Kleinsten und den Stolzesten,
Jenen, die zerstreut sind, und Jenen, die denken, Jenen, die noch
lachen, und Jenen, die weinen; denn sie wissen Dinge, die wir nicht
wissen, und haben ein Licht, das wir verloren haben. Sie wohnen am
Fusse des »Unvermeidlichen« und kennen besser als wir die geheimen
Wege dahin. Und deshalb sind sie überraschend in ihren Gewissheiten
und bewunderungswürdig in ihrem Ernst; man sieht wohl, dass sie
sich in ihren geringfügigsten Handlungen von den sicheren und starken
Händen der grossen Götter gestützt fühlen. Ich sagte oben, dass sie
uns den Pforten unseres Wesens näher bringen, und wirklich, man
könnte glauben, dass alle unsere Beziehungen zu ihnen nur durch diese
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 380, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0380.html)