Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 381
Text
halbgeöffnete primitive Pforte gehen, sich in dem unbegreiflichen
Flüstern ausdrücken, das zweifelsohne das Entstehen der Dinge be-
gleitete, zu jener Zeit, wo man nur leise sprach, aus Furcht, ein Verbot
oder einen unerwarteten Befehl zu überhören.
Sie wird nicht über die Schwelle dieser Thüre schreiten und
wird uns drinnen erwarten, wo die Quellen sind. Und wenn wir von
aussen klopfen und sie uns öffnet, lässt ihre Hand nie den Schlüssel
oder den Thürflügel aus. Sie besieht einen Augenblick den Nahenden
und hat in dieser kurzen Zeit Alles erfahren, was sie erfahren muss;
die zukünftigen Jahre haben bis an das Ende aller Zeiten gezittert
Wer sagt uns, was der erste Blick der Liebe enthält, »dieser Zauber-
stab aus einem Strahl gebrochenen Lichtes«, einem Strahl, der dem
ewigen Gefilde unseres Wesens entstiegen ist, zwei Seelen verwandelt
und sie um zwanzig Jahrhunderte verjüngt hat? Die Thüre öffnet sich
noch oder schliesst sich; bemüht euch nicht mehr, alles ist entschieden.
Sie weiss. Sie wird nicht mehr auf euere Handlungen, euere Worte,
euere Gedanken achten, und wenn sie sie noch überwacht, wird sie
es nur lächelnd thun, unbewusst vielleicht wird sie Alles, was nicht
die Gewissheiten dieses ersten Blickes bestätigt, zurückweisen. Und
wenn ihr sie zu täuschen glaubt, so wisset, dass sie gegen euch selbst
Recht hat, und dass nur ihr irret, denn ihr seid weit eher, was ihr
in ihren Augen seid, als was ihr in euerer Seele zu sein glaubt, selbst
dann, wenn sie sich unaufhörlich über den Sinn eines Lächelns, einer
Geberde oder einer Thräne täuscht.
O, ihr verborgenen Schätze, die ihr nicht einmal einen Namen
habt! — — Alle Jene, welche empfanden, dass die Frauen schlecht
sind, mögen es verkünden und uns ihre Gründe sagen, und wenn
diese Gründe wahrhaftige sind, werden wir erstaunt sein und weit ins
Geheimnissvolle vordringen. Nein! Sie sind wirklich die verschleierten
Schwestern aller grossen unsichtbaren Dinge. Sie sind wirklich die
nächsten Angehörigen des Unendlichen, das uns umgibt, und verstehen
allein noch, ihm mit der trauten Grazie eines Kindes zuzulächeln, das
seinen Vater nicht fürchtet. Sie erhalten hienieden gleich einem himm-
lischen, unnützen Juwel den reinen Duft unserer Seele, und wenn sie
von dannen gingen, würde der Geist allein über einer Wüste herrschen.
Sie haben noch die göttlichen Empfindungen der ersten Tage, und
ihre Wurzeln stecken tiefer als die unsrigen in Allem, was stets unbe-
grenzt war. Wirklich, ich bedauere Jene, die sich über sie beklagen,
denn sie wissen nicht, auf welchen Höhen die wahren Küsse zu finden
sind. Und wie gering erscheinen sie doch, wenn die Männer sie im
Vorübergehen betrachten! Sie sehen, wie sie sich in ihren kleinen
Wohnungen bewegen; diese hier beugt sich ein wenig, die Andere
dort schluchzt; eine Dritte singt, und die Letzte stickt, und nicht
Einer versteht, was sie machen!
Sie suchen sie auf, wie man lächelnde Dinge aufsucht; sie nähern
sich ihnen nur lauernden Geistes, und selten nur, durch den grössten
Zufall findet die Seele Eintritt. Misstrauisch fragen sie, es wird ihnen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 381, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0381.html)