Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 382
Text
keine Antwort, weil die Frauen schon wissen; und da gehen sie denn
achselzuckend weiter in der festen Ueberzeugung, dass man sie nicht
verstanden hat.
»Aber was brauchen sie denn das zu verstehen,« antwortet uns
der Dichter, der immer Recht hat. »Was brauchen sie zu verstehen,
diese glücklichen Seelen, die das beste Theil erwählt haben, und die
wie eine reine Liebesflamme in dieser irdischen Welt nur auf den
Zinnen der Tempel oder auf den Masten der irrenden Schiffe er-
glänzen als Zeichen jenes himmlischen Feuers, das Alles mit seinen
Strahlen übergiesst? Oft und oft entdecken diese liebenden Kinder in
geheiligten Stunden die wunderbarsten Geheimnisse der Natur und
enthüllen sie in unbewusster Harmlosigkeit. Der Weise folgt ihren
Spuren, um alle die Edelsteine zu sammeln, die sie in ihrer Unschuld
und Freude auf den Weg gestreut haben. Der Dichter, welcher fühlt,
was sie fühlen, dankt ihrer Liebe und sucht durch seine Gesänge diese
Liebe, den Keim aus dem goldenen Zeitalter, in andere Zeiten und
andere Gegenden zu versetzen.« Denn was er von den Mystikern ge-
sagt hat, ist namentlich auf die Frauen anzuwenden, welche uns bis
auf unsere Tage den mystischen Sinn auf Erden erhalten haben.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 382, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0382.html)