Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 383
Text
Von Ludwig Szczepanski (Wien).
Getragen vom modernen Geiste und Empfinden, nahm die jung-
polnische Lyrik in den letzten Jahren einen raschen Aufschwung und
weist eine Reihe von interessanten Talenten auf. Da ist also vor Allem
der alte, von den »Jungen« allgemein verehrte Adam Asnyk, der ge-
dankentiefe Meister lyrischer Formen; Maria Konopnicka, die genial
pathetische Dichterin, eine slavische Ada Negri; Casimir Lange, ein
poetischer Wanderer durch philosophische Gedankenwelten und treff-
licher Uebersetzer Beaudelaire’s; Lucian Rydel, ein stimmungsvoller
symbolistischer Lyriker; Jan Kasprowicz, Andreas Niemojewski, die mit
starker, oft allzu derber Hand in die Saiten greifen, um dem mächtig
pulsirenden Volksleben zu dienen
Ich aber möchte hier jetzt nur auf zwei moderne jungpolnische
Lyriker hinweisen, die mir vor allen anderen werth und theuer sind.
Beide gehen ihre eigenen Pfade, unbekümmert um den Lärm des Tages,
abseits von der grossen Menge. Beide sind ausgeprägte moderne Indi-
vidualitäten, aber durchaus verschiedene Temperamente: Casimir von
Tetmajer und Zeno Przesmycki (Miriam).
Die Lyrik des einen träumt süss und müde oder eilt und flieht
in die Ferne, getrieben von heisser Leidenschaft und banger Sehnsucht.
Sie ist durchaus subjectiv und zeigt die Seele nackt, ohne Hüllen und
Schleier. Die Kunst des anderen ist nachdenklich, streng und heiter
und drapirt sich in schwerwallendem Purpur der Form, so dass sie
wundersam hieratisch erscheint, wie byzantinische Figuren auf Goldgrund.
Casimir Tetmajer lernte ich auf einer Nachtwanderung in der
Tatra kennen.
Ein zerklüfteter, majestätischer Gebirgswall mit jäh aufsteigenden
Felsenpyramiden, von denen unzählige Wasserfalle silbrig herabschäumen
— so ist die Tatra. Auf steilen Pfaden schreitet man hinan, und von
der Höhe, über Gipfel und Schluchten hinweg, eilt der Blick weit in
die lichtübergossene, träumende, stille Ebene. Und tief unten, zu Füssen
des Wanderers, erglänzen zauberisch dunkle Seen, die Meeraugen, um-
ragt von grauen Felsenhängen. Sie stehen, wie das Volk erzählt, mit
dem Meere unterirdisch in Verbindung.
Dort in der Tatra ist der junge Dichter geboren. In der grandiosen
Natur erstarkte seine Poesie und gewann den Zauber jener abgrund-
tiefen Tatraseen, wenn lichter Mondschein sie bestrahlt.
Vom Felsenhange brauste der Wind heran und kündete dem
Poeten gar sonderbare Mären von schwindelnden Höhen, stumm-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 383, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0383.html)