Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 384
Text
gähnenden Abgründen und sonnengoldenen Palästen, zu denen Niemand
den Weg weiss. Leidenschaft und Sehnen machen das Herz ihm trunken,
und glühend dringt er hinan, das märchenheimliche Labyrinth der Lust
zu ergründen. Im heissen, bleichen Sinnenrausch geniesst und singt er
das Zauberglück der Liebe. Aber das sehnende Herz treibt ihn in die
Ferne. Und Qual, Enttäuschung, Ekel, sie ziehen mit ihm. In einer
öden Gegend sinkt er hin, ermattet und verzweifelnd. »Et la tristesse
de tout cela, o mon âme, et la tristesse de tout cela!« In dieser
bangen Abenddämmerung, da er dem Leben flucht, naht der milde,
müde Traum. Es muss doch eine süsse, unendliche Liebe geben. Der
Dichter sehnt sich nach ihr; er träumt von der Geliebten, von der
Einzigen. Mit heissem Verlangen harrt er, ob sie nicht naht, sie, die
Retterin, die ihre kühlen, weichen Hände auf seine glühende Stirne
legt. Er sieht sie, wie sie in dämmernder Ferne an abendstillen Wassern
wandelt und träumt — — — —
Es sinkt die Nacht. Müde flackert die Nervengluth. Bleiche Vi-
sionen, gespenstische Schatten gaukeln heran; weiche Melodien erklingen
aus der Tiefe und wiegen die Seele ein, die sich nach Ruhe, nur nach
Sternenstille sehnt.
Aber bald steigt über den Bergen die Morgensonne herauf; weite
Horizonte erglühen vor dem lichttrunk’nen Blicke. Der Dichter schaut
die Unendlichkeit, das Wogen des Weltmeeres, und die müde Seele
badet berauscht im ewigen Jungbrunnen der Kunst.
Sehnsucht und Traum, heisse, leidenschaftliche Lust und bleiche
Ekstase herrschen in diesem lyrischen Dichterreich, und der Hauch
der Unendlichkeit bringt die Harmonie der Erlösung. Weich, prä-
raphaelitisch, zart, geheimnissvoll — und schmerz-mächtig ist diese Poesie,
»göttliches Opium« für eine sinnende Seele.
Wie er mit blassem Pastellausdruck ein subtiles Stimmungsbild
schafft, das leise, ganz leise in der Seele nachklingt, mögen die folgenden
vier Strophen zeigen:
Ein lichter Nebelschleier
Hat Busch und Baum umsponnen,
Die bläulich klaren Weiher
Entspiegeln bunte Sonnen —
In sonnig milder Schöne
Die Ebne schlummert sachte —
Maria Magdalene
Erblickt ihn, der erwachte.
Furcht fasste sie und Beben,
Ihr Herz fühlt süsses Wehe,
Als sie ihn sah entschweben
Hin in die goldne Höhe.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 384, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0384.html)