Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 385

Jungpolnische Lyrik (Szczepanski, Ludwig)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 385

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JUNGPOLNISCHE LYRIK. 385

Er schritt ins Sonnenglühen
In weisser Nebelhülle
Und jene auf den Knien
»O, Christus!« flüstert stille.

Anders Zeno Przesmycki (Miriam). Die Ruhe seiner Reflexion,
die Harmonie seines Wesens wird durch nichts erschüttert, durch nichts
qualvoll aufgewühlt. Er lebt nur für die Kunst und durch die Kunst;
von der turris eburnea der Eingeweihten schaut er auf das Treiben der
Welt herab, die ihn nichts angeht und die er nicht versteht.

Er ist zwar mehr geniessender Esthet als schaffendes Talent, mehr
ein mit feinster Empfindung begabter, nachbildender Geist als ursprüng-
licher, originell erfindender Poet, aber seine Bedeutung für die jung-
polnische Poesie ist gleichwohl eine ungemein grosse. Er war der
Bahnbrecher, der Prophet, der begeisterte Lehrer neuen Empfindens,
neuer Kunst.

Auf ästhetischer Pilgerfahrt durchwanderte er die Literaturwellen,
von unbekannten Gestaden brachte er Kunde. Seine zahlreichen virtuosen
Uebersetzungen vermittelten vor Allem die Kenntniss der französischen
Parnassiens, Jungbelgiens, besonders Maeterlinck’s; seine Essays wiesen
neue Wege und neue Ziele. So ward er Führer der »Moderne« und ihr
heiss befehdeter Vorkämpfer. Die ehrsamen Literaturbonzen schüttelten
über diese entartete unverständliche Kunst gar ernst und gewichtig
die Köpfe.

Richtig charakterisirte ihn George Wallner in der »Jeune Bel-
gique« als einen »romantique refroidi par un parnassien«. Die Gewandt-
heit, mit welcher der Dichter die schwierigsten artificiellen Versarten
meistert, die Vorliebe für reiche und üppige Stylformen kennzeichnet
ihn in der That als Anhänger des Parnasses. Er liebt das Barock,
das Exotische der Sprache, den künstlichen Faltenwurf des Ausdruckes,
den glänzenden Schimmer des Wortes. Davon zeugen besonders seine
»Rondeaux«, von denen hier eins folgt:

Das Rondeau.

Das Rondeau, ein Geschmeid’ aus gold’nem Guss,
Drin Edelsteine glitzern um die Wette!
Mit reicher Strahlenpracht glänzt es zum Gruss,
Und glaube nicht, dass es den Sänger kette,
Dies holde Bild des heiter’n Genius!

Dem Diskos gleich in der Arena muss
Der Reim entflieh’n; er kehrt zurück zur Stätte,
Er drängt sich auf, formt im Gedankenfluss
Das Rondeau.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 385, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0385.html)