Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 387
Text
Von Dr. Paul Weisengrün (Wien).
I.
Schon der Titel dieser Abhandlung wird gar viele »moderne«
Geister in ein gelindes Grausen versetzen. Wie? Es gibt heutzutage
noch einen Schriftsteller, der es wagt, sich gegen die Frauenemancipa-
tion schlechthin, ohne jede Einschränkung zu erklären? Es ist ja
überhaupt nicht modern, sich ganz »gegen« eine Sache zu wenden,
durch den Titel schon anzudeuten, dass man mit voller Absicht und
vollkommener Instinctsicherheit zum innersten Kern einer wichtigen
Bewegung nein sagt. Unter den zahlreichen Vorwürfen, die mir nach
blosser Lectüre der Ueberschrift sicherlich nicht erspart bleiben werden,
wird das Wort reactionär nicht den letzten Platz einnehmen Ich
aber glaube, dass man politisch Radicaler, Socialist, ja sogar Social-
demokrat sein kann, ohne sich der Ansicht zu verschliessen, dass dieser
Fragencomplex am allerwenigsten die Schablone vertrage, und dass
eine Revision der Grundbegriffe hier mehr als anderswo von Nöthen sei.
Die Frauenfrage ist acut geworden. Noch vor einem Jahrzehnt
war ihre praktische Bedeutung kurzsichtigen Augen nicht wahrnehmbar.
Man discutirte rein theoretisch über diese Dinge. Heute mengen sie
sich bereits in den Lärm der Strasse. Der unerwartete Beschluss des
englischen Unterhauses, welches in zweiter Lesung die Bill, welche den
britischen Frauen das Stimmrecht ertheilt, annahm, hat nicht wenig
dazu beigetragen, die ganze sociale Tragweite der Frauenbewegung ins
hellste Licht zu rücken. Ich halte es nun für zeitgemäss, die Forde-
rungen der Frauenrechtlerinnen auf die allgemeinste Formel zu bringen,
um hiemit den Kernpunkt so verwickelter Probleme möglichst klar
herauszuschälen.
Die Frauenfrage tritt nicht als einheitliches Problem in die äussere
Erscheinung; sie ist nicht, wie eine geistreiche Schriftstellerin behauptet,
»une et indivisible«.1) Man braucht nur einen Blick auf die Verhand-
lungen des Berliner internationalen Frauencongresses zu werfen, um zu
erkennen, welche Schwierigkeit es hat, aus dem Complex von Pro-
blemen, welchen wir schlechthin Frauenfrage nennen, das wesentliche
Hauptmoment herauszufinden. Worüber wird da nicht Alles verhandelt!
Wir erfahren allerlei Belehrendes über Kindergärten und Jugendhorte,
vernehmen, wie es mit der Mädchenerziehung, der Lehrerinnenbildung,
1) Vgl. Der internationale Frauencongress von Wally Zeppler. Socialistische
Monatshefte Nr. 10.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 387, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0387.html)