Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 388

Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 388

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388 WEISENGRÜN.

bestellt ist, lesen erbauliche Studien über Mädchengymnasien und den
Besuch medicinischer Vorlesungen und werden über Frauenbewegung
in Finnland, Dänemark und Armenien unterrichtet. Mässigkeits-
bestrebungen und Sittlichkeitsfrage, Mädchen- und Frauengruppen für
sociale Hilfsarbeit, öffentliche Waisen- und Armenpflege — das sind
die Gegenstände an der Tagesordnung der Hauptversammlungen. Was
für Themata werden nun erst in den Sectionssitzungen berührt! Die
Reform der Kleidung, die Sittlichkeitsfrage, die Handarbeit in Preussen,
die Familiengenossenschaften, die Frauenarbeit in Obst- und Garten-
bau — über all dies und noch manches Andere werden wir des Aus-
führlichen informirt. Man sieht, wie umfassend und in die Breite gehend
die Frauenbewegung sein muss, wenn die Anhängerinnen der Emanci-
pation es für nothwendig erachten, auf ihrem ersten internationalen
Congresse alle die Angelegenheiten, die wir zum Theil anführten, zu
berühren und zu verhandeln. Wir erfahren aus der Literatur der Frauen-
rechtlerinnen, dass es eine bürgerliche und eine proletarische Frauen-
bewegung gibt. An anthropologischen, ethnologischen, entwicklungs-
geschichtlichen, erotisch-literarischen Standpunkten fehlt es in ihren
Schriften nicht. Für die Einen ist die Bildungsfrage, für die Anderen
der Classenkampf die Hauptsache. Die Einen rufen zum Kampf gegen
den »Mann«, die Anderen zum heiligen Krieg gegen die ökonomischen
Usurpatoren und Tyrannen, welche Mann und Weib zu gleicher Zeit
gefesselt haben Gibt es nun wirklich kein Grundprincip, unter das
man die verschiedenen Gesichtspunkte in der Frauenfrage subsumiren
kann, gibt es keinen Faden, der durch das Labyrinth all dieser Be-
strebungen, Tendenzen, unklaren Forderungen und heissen Wünsche in
die frische Atmosphäre klarer Betrachtungsweise, vollintuitiver und doch
wissenschaftlicher Problemstellung führt?

Seit einigen Decennien beherrscht die sociale Frage Europa. Das
industrielle Proletariat ist auf der Weltbühne erschienen und fordert
sicheren Blicks und mit entschiedener Miene seinen Antheil an der
wirthschaftlichen, politischen und künstlerischen Cultur. Diese »Emanci-
pation des vierten Standes« soll, so behauptet man, auch zu gleicher
Zeit die der gesammten unterdrückten Classen überhaupt sein. Doch
siehe da! Eine neue unterdrückte Classe meldet sich und fordert ihr
Recht. Wir wollen nun zunächst nicht danach sehen, welcher Art diese
Unterdrückung ist, und beschränken uns hier auf die Betonung dieser
allgemeineren und formaleren Seite des Problems: Die Frauen fordern
vollständige Gleichberechtigung mit dem Mann auf Grundlage eben
dieser Unterdrückung. Formal betrachtet, befinden sich die gesammten
Wünsche und Forderungen sämmtlicher Frauenrechtlerinnen, auch der
extrem-bürgerlichen, auf der directen Verlängerungslinie proletarischer
Aspirationen. Man denke sich, das industrielle Proletariat kämpfe, wie
das Kleinbürgerthum dies theilweise thut, für seine ökonomische und
intellectuelle Befreiung, ohne die Berechtigung zu diesem Kampfe auch
anderen unterdrückten Schichten einzuräumen. Sicherlich würden dann
Landarbeiter, Knechte, Lumpenproletarier u. s. w. aufstehen und in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 388, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0388.html)