Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 389
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den Berufsschulen in Deutschland, England, Frankreich und Ungarn
unklarer, oft widersprechender Weise für sich Forderungen erheben,
die sich in der Richtung der proletarischen Gesammtwünsche befänden.
So steht es mit den Aspirationen der Frauenrechtlerinnen sämmtlicher
Nuancen. Verworren, unklar, zum Theil willkürlich erhoben sich in
der ersten Zeit ihre Stimmen zu Gunsten der Befreiung ihres Ge-
schlechts; aber selbst die Wünsche der extrem-bürgerlichen Frauen-
rechtlerinnen knüpfen an bekannte proletarische Melodien an. Es ist
dasselbe Leitmotiv: Zunächst ökonomische Befreiung und dann
intellectuelle, ethische. Bilden alle Unterdrückten männlichen Ge-
schlechts, die sich um das industrielle Proletariat schaaren und sich,
mit ihm zu identificiren vermögen, den vierten Stand, dann haben wir
es in der Frauenbewegung mit dem Emancipationskampfe des fünften
Standes zu thun! Hiemit hat die sociale Frage eine Complication
erlitten. Sie ist nicht mehr allein das verhältnissmässig einfache Problem
der inneren, entwicklungsgeschichtlich nothwendigen Befreiung des
industriellen Proletariats und aller damit identificirbaren Volksschichten.
Die Frau erhebt Anforderungen auf Gleichberechtigung! Gibt es
eine absolute oder eine relative Gleichberechtigung, und worin besteht
die letztere? Ist es möglich, schon im Verlaufe der nächsten Zeit all
die psychisch und physisch so scharf normirten Geschlechtsunterschiede
untertauchen zu lassen in einer allgemeinen Gleichheitsbestrebung? Wie
weit kann sich die sociale Nivellirungstendenz in dieser Beziehung
erstrecken? Gibt es einen oder gibt es keinen Classenkampf innerhalb
des weiblichen Geschlechtes selbst? In welcher Weise verändert dieser
Kampf schon jetzt die Frau? Man sieht eine Unzahl von Fragen
entstehen. Sie verwirren, verdunkeln, verundeutlichen das früher ver-
hältnissmässig klare Bild des socialen Kampfes. Zwei Grundprobleme
jedoch werden allmälig sichtbar und wachsen zu gewaltiger Tragweite
empor. Sie allein geben der Frauenfrage eigentlich ein tieferes theo-
retisches Interesse, sie bilden den wahren Inhalt, den lebendigen Kern
der unzähligen Nebenprobleme, die leider mit so ungebührlicher Breite
erörtert werden. Sie lauten: 1. Beruht der
Emancipations-
kampf
des fünften Standes auf derselben natürlichen,
entwicklungsgeschichtlich so leicht fassbaren Basis
wie der des vierten Standes? 2. Kann die sociale Frage
eine solche Complication vertragen? (Ich habe bis jetzt, um
die Dinge zu vereinfachen, aus methodologischen Gründen angenommen,
mit der socialen Frage verhalte es sich so, wie die Marxisten das be-
haupten.) Dieser Problemstellung scheinen zwei Thatsachen zu wider-
sprechen. Die extrem bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, so wird man
behaupten, stellen ja ihre Forderungen ganz ohne jede Berücksichtigung
der Classengegensätze im Namen der Menschheit, im Namen ihres
Geschlechtes auf. Aber in politischen und socialen Dingen kommt es
nicht so sehr darauf an, was man fordert, als was man durch seine
Wünsche erzielt, bewirkt, in Bewegung setzt. Wie sehr sie sich auch
dagegen stäuben mögen, von diesem formalen Standpunkte betrachtet,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 389, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0389.html)