Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 390

Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 390

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390 WEISENGRÜN.

knüpfen die leisen, halbklaren Wünsche der Frauenrechtlerinnen an be-
stimmte, Allen deutlich sichtbare Tendenzen der Proletarier an. Das
Charakteristikon, hier wie dort, ist, dass der Emancipationskampf mit
vollem Bewusstsein als ein in erster Reihe auf ökonomischer Basis
fussender geführt wird. Selbst extrem bürgerliche Frauenrechtlerinnen,
welche sich auf’s Entschiedenste verwahren, für den Socialismus ein-
zutreten, fordern zunächst eine ökonomische Umwälzung, verlangen ge-
nügende Gewährleistung von Arbeitsgelegenheit für das Weib und
kommen erst dann mit moralischen, mit Sittlichkeitsanforderungen.

Die Betonung des ökonomischen Fundaments, dieser praktische
positive, ökonomische Materialismus ist das Bindeglied
zwischen den Frauenrechtlerinnen aller Nuancen.

Mit unserer Auffassung steht zweitens die Thatsache scheinbar
im Widerspruch, dass wir den psychologisch-erotischen Theil der Frage
ganz verhüllt und verdeckt haben unter ökonomischen Gesichtspunkten.
Aber man bedenke, dass es sich bisher für uns lediglich darum ge-
handelt, nachzuweisen, was die Frauenfrage formaliter als Emancipations-
kampf des Geschlechtes bedeutet und welche sociale Tragweite diese
Emancipationsbestrebung annimmt. Wie verfehlt es wäre, die psycho-
logisch-erotische Seite der Frauenfrage zu verkennen, wird sich gleich
erweisen, wenn wir auf den Inhalt der beiden oben aufgestellten Grund-
sätze des Näheren eingehen werden.

So beweisen denn beide Einwände nichts gegen unsere Auffassung.
Hiezu gesellt sich noch ein Umstand: die extrem bürgerlichen Frauen-
rechtlerinnen sind sehr selten, und die gemässigt-bürgerlichen Anhänge-
rinnen der Frauenemancipation bilden mit den Proletarierinnen zu-
sammengenommen eine kolossale Majorität. Wie sehr die gesammte
Frauenbewegung, vom formalen Gesichtspunkte angesehen, ein Emanci-
pationskampf des fünften Standes ist, beweist der Umstand, dass selbst
nichtproletarische Frauenrechtlerinnen all ihre Forderungen für unnütz,
unwirksam, gänzlich unvollkommen erachten ohne das Stimmrecht. So
spricht in einem Aufsatz 1) in »Neuland« Frau Clara Müller, trotzdem
sie betont, dass die Frauenbewegung fern vom Parteigetriebe, ohne
jegliche Accentuirung der Racen und Gassen zu führen sei, die An-
sicht aus, dass die Frau neben der wirthschaftlichen Selbst-
ständigkeit die politische, nämlich das Stimmrecht, erlangen müsse.
Im Protokoll des internationalen Frauencongresses äussert sich eine
durchaus nicht auf socialistischem Standpunkt fussende Frauenrechtlerin
folgendermassen über das Hauptproblem der Emancipation: »Darum
lasst uns Alle gemeinsam für unsere Menschenrechte kämpfen — für
unsere sociale und sittliche Gleichberechtigung! Man wird uns aber
nicht eher eine gleich werthige Rechtsstellung und die vor allen Dingen
nöthige gleichwerthige Schulbildung geben, als bis wir unsere For-
derungen officiell aufstellen können.


1) Neuland, I. Bd., 2 Heft, Jänner 1897, pag. 267.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 390, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0390.html)