Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 391
Text
Die vornehmste Forderung der Frau sei also Erlangung des
Stimmrechtes.« 1)
Wir gelangen nun zu unserer ersten Grundfrage zurück: Beruht
der Emancipationskampf des fünften Standes auf derselben natürlichen,
entwicklungsgeschichtlich so leicht fassbaren Basis wie der des vierten?
Dies Problem kann nicht erfasst werden ohne Erledigung der Vorfrage:
In welcher socialen Lage befindet sich das Frauengeschlecht im All-
gemeinen? Man wird da zunächst von allen psychologischen Gesichts-
punkten abstrahiren und rein ökonomisch vorgehen müssen. Welche
Schichten der Frauenwelt sind concret gesprochen in einer Nothlage?
Welcher Art ist diese Nothlage und wie kann ihr abgeholfen werden?
Mit diesen Fragen wird sich unser zweiter Aufsatz beschäftigen. Aber
hiermit ist das Problem selbst noch nicht gelöst. Hinter den socialen
Unterschieden zwischen Mann und Weib liegen die psychologischen.
Man kann diese letzteren nicht ohne Kenntniss der socialen ausein-
andersetzen.
Ein Schlussartikel wird sich mit dieser psychologischen Seite
der Frauenfrage befassen. Es wird sich herausstellen, dass man zahl-
reiche Forderungen und Einzelbestrebungen der Frauen auf wirthschaft-
lichem und socialem Gebiete acceptiren kann, ohne den Kern der
Frauenemancipation bejahen zu müssen. Ist die erste Grundfrage gelöst,
so bereitet dann die zweite keine sonderlichen Schwierigkeiten. Wenn
wir in Erfahrung gebracht haben, dass die Emancipation des Geschlechts
nicht dieselbe Grundlage wie die des vierten Standes hat und haben
kann, dann sind auch die meisten Momente mit analysirt, welche das
Problem betreffen, inwieweit die Frauenfrage eine Complication der
socialen ist.
Psychologie und Oekonomie, sociale und geschlechtliche Gesichts-
punkte sind hier zu einem schier unentwirrbaren Knäuel zusammen-
geballt. Seltsam, dass diese eine gesellschaftliche Frage so verschiedene
Schwierigkeiten aufweist, von denen doch eine einzige genügen würde,
ein Problem interessant zu gestalten. So scheint es eben, dass, wo das
Weib in Frage kommt, Alles zum Räthsel wird.
1) Siehe: Der internationale Frauencongress in Berlin, Berlin 1897, Hermann
Walther, pag. 289.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 391, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0391.html)