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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 403

Text

DIE ADLERMUTTER. 403

Aber nun, da es gegen Abend ging, begannen die Kinder zwischen
der Hausthüre und dem Käfig auf und ab zu laufen; und schliesslich
spielten sie alle lustig draussen auf dem Hofe.

Auch einer und der andere von den Erwachsenen kam hinaus
und nahm seine gewöhnliche Arbeit vor.

In der stillen Abendluft hatte die junge Frau des Sohnes ihren
Säugling auf die Bleiche gelegt, während sie am Brunnen etwas Weiss-
zeug spülte.

Auf dem Scheunendach wippten ein paar muntere Elstern, die
ihr Nest in dem Weidenbaume am Hauptgebäude hatten, und unten
auf dem Hofplatz hüpften einige Sperlinge und pickten verstreute
Körner auf.

Plötzlich fuhr es wie ein blitzschneller Schatten dunkel durch
die Luft.

In der Stille ertönte ein seltsam brausender Laut, ein mächtiges
Schwingensausen.

Als die Frau sich eilig umsah, schwebte bereits ein riesiger Adler
von der Bleiche empor.

Sie sprang in durcheisendem Schrecken auf, noch mit dem nassen
Zeug in der Hand.

Der Raubvogel hielt ihr Kind in seinen Klauen, und ihr starrer
Blick verfolgte eine lange Secunde, wie er stieg und die Luft zwischen
ihrem Kinde und dem Erdboden blaute.

Die wilde, wahnsinnige Angst gab ihr eine Inspiration.

Sie stürzte zum Käfig hin, riss den jungen Adler heraus und hielt
ihn jammernd und schreiend mit beiden Armen in die Luft hinauf,
ohne sich darum zu kümmern, dass er ihr den Kopf und das Gesicht
blutig hackte und haute.

Die Adlermutter schwebte einen Augenblick still in der Luft, und
die Frau sah mit blinzelnden Augen jedesmal, wenn der Vogel mit
den Schwingen schlug, um sich oben zu erhalten, das Kind in seinem
Wickel wie einen Wurm zwischen den Klauen herabhängen.

Plötzlich meinte sie, er senke sich herab.

Und sie verfolgte athemlos, wie der Raubvogel sanft wieder zur
Wiese herniederschwebte.

Sie liess den jungen Adler los und taumelte wie von Sinnen zu
ihrem Kinde hin.

Die beiden durch die Noth gedrängten Mutterinstincte hatten
einander verstanden.

Als aber die Adlermutter ihre Beute losliess und wieder empor-
stieg, blitzte vom Hause her ein Schuss auf.

Und das mächtige Thier stürzte mit weitausgebreiteten Schwingen
leblos zur Bleiche herab, während der befreite junge Adler mit kurzem,
schnellem Fluge über die Waldwipfel emporstieg.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 403, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0403.html)