Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 402
Text
Auf den Grenzsteinen lag Adlerblut.
Eines Tages sauste der Aar von einer Morgenjagd viele hundert
Meilen von seinem Nest über Steinöden heim zu seinen Jungen, mit
einer neugeborenen Renthierkuh in den Klauen.
Als er zum Nest sich herniedersenkte, schlug er heftig mit den
Schwingen, und ein wilder, gellender Schrei durchhallte in vielfachem
Wiederklang den Felsenkessel.
Die starken Zweige, welche die Unterlage des Nestes gebildet
hatten, hingen mit langen Fasern aus schmutzigem, befedertem und
blutigem Moose auf den Absätzen an der Felsenwand herab.
Das Nest war geplündert und zerstört, und das Junge, das täg-
lich seine Schwingen geübt und seine Klauen und seinen Schnabel an
immer grösseren Beutestücken erprobt hatte, war fort.
Da stieg die Adlermutter höher und höher empor, bis das Echo
ihres Schrei’s nicht mehr in der Felseneinsamkeit wiederhallte.
Spähend kreuzte sie umher.
Plötzlich schnob und zischte es über den Häuptern zweier Jäger,
die tief unten aus dem Walde daherkamen.
Der eine von ihnen trug auf dem Rücken in einem Weidenkorbe
einen gefangenen jungen Adler.
Und während die beiden Männer Meile um Meile den weiten
Weg abwärts zu einem der höchstgelegenen Bauernhöfe hinabschritten,
segelte die Adlermutter, argwöhnisch wachend, droben in der Luft.
Durch zerrissene, blaue Wolkenlücken beobachtete sie mit ihren
scharfen Augen, wie bei der Ankunft auf dem Hofe Klein und Gross
sich um den Weidenkorb versammelte.
Den ganzen Tag kreuzte sie dort oben umher.
Als die Dämmerung sich herabsenkte, liess sie sich halb zum
Schornsteinrauch des Hauses herab. Und die Leute auf dem Hofe
hörten im Abenddunkel einen seltsamen hässlichen Schrei über dem Dache.
Ganz Frühmorgens — als kaum im Morgengrauen ein goldiger
Schimmer der Sonne begann — schwebte sie wieder hoch empor,
ihren scharfen Blick unten auf den Bauernhof gerichtet.
Sie beobachtete, wie die Söhne des Bauern draussen vor der
Thüre mit der Axt Holz zurecht hauten und Bretter zuschnitten,
während die Kinder dastanden und zusahen.
Später am Morgen trugen sie einen Käfig auf den Hofplatz hinaus,
durch dessen offene Spalten die Adlermutter deutlich unterscheiden
konnte, wie das Junge flatterte und unaufhörlich mit dem Schnabel
schlug, um sich zu befreien.
Der Käfig blieb verlassen stehen, ohne dass sich weiter ein Mensch
sehen liess.
Und die Sonne stieg höher und höher an dem warmen Vormittag.
Die Adlermutter segelte und kreuzte droben hinter den Wolken
und beobachtete jede Bewegung des Jungen, wie es seinen krummen
Schnabel in die Höhe richtete und zischte und die Klauen ver-
zweiflungsvoll die Stäbe umklammerten.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 402, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0402.html)