Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 408
Text
entsetzlichen Anstrengung brachte ich Alles in mir in Ordnung. Ich
hatte keine Furcht mehr.
Herr meiner selbst, sprach ich zu mir:
»Nach alle dem ist es noch nicht erwiesen, dass er todt ist —
vielleicht ist es nur eine leichte Ohnmacht.«
Ich fühlte seinen Puls. Unter meinem Finger rührte sich etwas.
Aber war es nicht mein Finger, der, wie gewöhnlich jeder Finger, an
der Spitze zitterte? Ich konnte es nicht ausnehmen. Und eine wahre
Hoffnung bemächtigte sich meiner. Auf dem Waschtische stand ein
Fläschchen mit Riechsalz und Eau de Cologne. Ich liess ihn an dem
Salze riechen und benetzte ihm die Stirne. Sein Wiedererwachen hätte
mir grosse Freude gemacht.
Ich zweifelte nicht daran, dass er am Leben war, obwohl nichts
dafür sprach. Aber sein Arm fiel träge herab, und ich sage Ihnen,
diese Bewegung war nicht natürlich. Wenn er lebte, warum benahm er
sich, als ob er todt wäre?
»Ah, zum Teufel,« dachte ich, »er stellt sich todt wie eine Spinne,
die sich vor dem Feinde zusammenzieht.«
Nein, in Wahrheit, es ärgerte mich. Mich beseelten die edelsten
Gefühle, und der Herr da spielte nur mit mir. Ich gerieth darüber in
Zorn. Ich schüttelte ihn aus Leibeskräften, er rührte sich nicht. Ich
nahm ihn mitten um den Leib und drückte ihn gegen mich, und zuletzt
tanzte ich mit ihm durch das Zimmer wie mit einer Marionette.
Ein Spiegel gab unser Bild wieder. Ich schüttelte mich vor
Lachen. Im Circus sieht man solche Dinge. Ich warf ihn wieder auf
den Fauteuil hin.
Der verdammte Leichnam! So dumm ist man doch nicht! Ich
sagte zu ihm:
»Bist du aber überspannt! Ich hatte ja nicht die Absicht, dich
zu tödten, und jetzt stirbst du mir, und ich werde dummerweise dein
Mörder, ohne jede Absicht und ohne jeden bösen Willen. Dreifacher
Idiot!«
Und in der That, jetzt kam ich in Wuth. Mörder zu sein, wenn
man gemordet hat, gut. Aber wenn man nicht gemordet hat, ist das
ungerecht. Meine Logik widersetzte sich dem. Ich wog die Gründe
für und wider ab, ob ich dieses Verbrechens schuldig sei oder nicht.
Und nun — nein! Mehr als einmal schon hatte sich der Widersinn
der Natur bewiesen; der vernünftige Mensch war eben das Opfer der
Unlogik, des Zufalles.
Das durfte nicht sein. Ich musste die Ungerechtigkeit bekämpfen,
ich musste die Dinge wieder in ihre natürliche Lage bringen, ihrem
wirklichen Sinne gemäss, der Norm, der Logik nach. Ich musste, ich
musste. Und darum habe ich so gehandelt, billig wie ein denkender
Mensch.
Und noch dazu mit Freude, mit etwas ironischer, aber doch
entzückter Freude. Ich nahm den Revolver und zielte auf die Leiche.
Leiche? Im Grunde blieb noch ein Zweifel; aber ich hatte dafür auch
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 408, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0408.html)