Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 429

Ermete Zacconi als Ibsen-Darsteller (Jacobsen, R.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 429

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ZACCONI ALS IBSEN-DARSTELLER. 429

Nur in dem Augenblicke, als die wirkliche Verzweiflung in ihm
losbricht, als er der Mutter die unheilbare Krankheit, der er verfallen
ist, offenbarte, schien dieser marklose Mensch plötzlich eine Seele zu
bekommen. Die erschlafften Züge spannten sich im tragischen Greuel,
die Augen hörten auf, todt und ausgebrannt ins Leere zu schauen,
sie wurden innerlich und wild schauerlich, die Haltung erhob sich mit
der Energie der Verzweiflung, die monoton heisere Stimme wurde
kräftig, voll bewusster, schneidender Angst, ein heftiges Weinen brach
mit fast befreiender Kraft aus dieser Brust, der man ehedem keine mensch-
liche Saite zugetraut und welche man schlaff und blutlos wie den
ganzen elenden Körper geglaubt hatte, hervor.

Dieser gewaltige Ausbruch des Schmerzes erzielte eine Wirkung,
wie ich sie noch nie gesehen — er riss das Publicum zu einem wahren
Beifallssturm, zu Thränen, zu excentrischen Ergüssen hin. Und auch
der Schauspieler selbst schien überwältigt, so dass er kaum noch weiter-
spielen konnte. Während das Publicum applaudirte, sass er lange, den
Kopf in die Hände gestützt, wie in sich selbst ganz verloren, und als
er endlich emporsah, war es mit einem Blick wie aus einer anderen
Welt, und es war, als sei er nicht imstande, für die gewaltsame
Huldigung zu danken, wie es sonst hier Sitte ist.

Wenn Henrik Ibsen selbst nach Italien kommt, wie das Gerücht
vermeldet, und Ermete Zacconi wieder in seinen Stücken auftritt, dann
wird der grosse Dichter staunen, wenn er sieht, wie dieser geniale
Schauspieler diese Rollen zu mimen wagt. Jede nordische Darstellung
ist, wie gesagt, im Vergleiche damit fast farblos. Es ist nicht wie Ko-
mödienspiel, sondern wie eine realistische Studie aus einer Alkohol-
oder Irrenanstalt, vielleicht nicht ganz das, was der Dichter beabsich-
tigte, aber in seiner ergreifenden Wahrheit vielleicht etwas noch Be-
deutenderes. Denn wie tief wurzelt nicht diese Darstellung in der ganzen
menschlichen Gesellschaft? Wer hat nicht eine solche Figur oder
theilweise eine solche in seiner Familie, in seinem Kreise, wenn auch nur
ganz flüchtig, gekannt? Bisweilen, wo sonst nur frische und normale
Menschen sich fanden, öffnete sich plötzlich zufällig eine Thüre, und
ein unheimlicher Blick, eine blöd’ dreinschauende Miene, die man
sonst sorgfältig verborgen hielt, guckte neugierig heraus. Wer ist nicht
— ganz wider alle Absicht — irgendwo auf den starren Blick des
Epileptikers, auf die aufgedunsene Blässe des Alkoholikers, auf die
stechenden Augen des Monomanen, auf die ausdruckslosen Züge des
Idioten gestossen? Wir Alle sind ihm begegnet, wir Alle haben ihn
gekannt, diesen Unglücklichen, den der Dichter vielleicht mit Recht
als den Unschuldigen betrachtet, an dem nur die Sünden der Väter
oder Vorfahren heimgesucht werden.

Der grosse Vorzug Zacconi’s vor den nordischen Darstellern der
Rolle ist dieser, dass er uns weit mehr von der rein menschlichen
Wahrheit der Idee dieses Stückes überzeugt hat, als die Anderen es
vermochten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 429, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0429.html)