Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 431

Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 431

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GEGEN DIE EMANCIPATION DES WEIBES.
Von Dr. Paul Weisengrün (Wien).
II.

Ist das weibliche Geschlecht im Allgemeinen heutzutage unzu-
frieden? Fühlt die moderne Frau aller Volksschichten das Unbehagliche
und Beängstigende, Quälende und Bedrückende ihrer Lage? Die meisten
bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, welche nicht direct auf dem Boden
des Classenkampfes stehen, beeilen sich, diese Frage zu bejahen. Sie
schildern mit satten Farben, wie die ökonomische Umwälzung des Jahr-
hunderts die Frau aus ihrer Behaglichkeit aufgescheucht hat, und zaubern
uns die Vergangenheit des Weibes zu einem idyllischen Märchen.

Die Anhängerinnen der proletarischen Frauenbewegung sind etwas
vorsichtiger. Ihr in Erforschung wirthschaftlicher Bewegungen und Kämpfe
geschulterer Blick lässt das Ueberschätzen kleinlicher, oft allzu klein-
licher Symptome nicht in dem Grade zu. Vor Allem aber wissen sie
aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, dass das Bewusstsein
der traurigen Lage nur in geringem Masse bezeichnend ist für den
Grad und Umfang des wirklichen Elends, und dass, je gedrückter, je
gefesselter eine Volksschichte ist, sie destoweniger den ganzen Umfang
ihrer Bedrückung und die volle Tragweite der Freiheitsbestrebungen
empfindet.

In der That, das Weib ist nicht so unzufrieden, wie die Führe-
rinnen der Frauenbewegung glauben. Nach harter Arbeit im Frohn-
dienst der Maschine, nach stundenlangem, augenverderbendem Häkeln
und Fädeln denken die armen Geschöpfe meist nicht über ihre Lage
nach. Sie haben zu wenig Zeit dazu.

Drei verschiedene grosse Volksschichten der weiblichen Bevöl-
kerung sollen zum grossen Theil unterdrückt sein und sind es auch
thatsächlich. Da ist zunächst die Arbeiterin, welche mit ihrem doppelten
Elend der schlecht bezahlten Proletarierin und des unterdrückten Weibes
den Reigen eröffnet. Sodann kommen die Frauen des mittleren und
hauptsächlich des kleinen Bürgerthums, die Ueberzähligen, die Ver-
nachlässigten und Verkümmerten, die Minderschönen und Mindergeliebten
ihres Geschlechts: die arme, darbende Lehrerin, die nicht heiraten
kann, die unversorgte Officierstochter, das verarmte Edelfräulein, das
hässliche, aber intelligente und lernbegierige Mädchen ohne Mitgift
u. s. w. Aber neben diesen zwei Kategorien gibt es auch unter den
Reichen und Versorgten Unzufriedene, versichern uns die Anhängerinnen
der Frauenemancipation. Diese fühlen sich in ihrer Ehe unglücklich,
in ihrer Stellung gegenüber dem Manne bedrückt; sie werden nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 431, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0431.html)