Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 438

Text

KRITIK.

Rumpler-Ausstellung. Es
gibt Seen, die unterirdisch mit
dem Meere in Verbindung stehen;
unbeweglich liegen sie da, und
selten nur, wenn draussen die
Flut kommt, geht ein Wogen und
Brausen durch das Brackwasser.

Auch in die Wiener Atmosphäre
ist bisher wenig von den Cultur-
evolutionen gedrungen, die Europa
erschütterten. Man hat hier Wich-
tigeres zu thun. Kannegiesserndes
Philisterthum und Theaterklatsch
unterdrücken jedes Interesse für
Menschheitsfragen, und in der pa-
pierenen Flut der täglichen Leit-
artikel ersticken die letzten Funken
einer Cultur.

Auch in der Kunst herrscht die
heilige Bürgerlichkeit. Wieder ein-
mal hatte der Senat in der
Lothringerstrasse der Mitwelt be-
wiesen, dass Alles beim Alten ge-
blieben sei in dieser besten aller
Welten, in denen man sich lang-
weilt; dass man in ihr wenig ge-
lernt und nichts vergessen habe;
und dass noch immer die blenden-
den Feuerzeichen an fremden
Himmeln die Nachmittagsruhe
unseres friedlichen Horizontes nicht
zu stören vermochten; da trat, plötz-
lich und unerwartet, wie alle
Menschen von Sendung, ein neuer
Mann auf, Franz Rumpler. Und
in dem kleinen Salon, in dem ein
Einsamer die Früchte zwanzig-
jährigen Ringens ausgestellt hatte,
fühlte man sich plötzlich unter
dem Bann einer Persönlichkeit:

aus langen Wandlungen und Ent-
wicklungen war hier ein Styl her-
vorgegangen, der einen Schritt nach
vorwärts bedeutete.

Zweierlei war es, was besonders
auffiel. Seine Technik zunächst,
die Virtuosität der Tonbehandlung.
Eine Auffassung landschaftlicher
Stimmungen, die in ihrer Tiefe
und Subtilität an die Schule von
Barbizon gemahnt. Der »Fackel-
zug« etwa: im Hintergrunde in
allen Variationen des Blau die
Windstösse im Wald, vorn die
Reflexe der rothen Leuchten; oder
das nackte Kind vor dem Vor-
hang, der grüne Lichter auf das
Fleisch wirft. Dies Verstehen der
Beziehungen, die zwischen den
Sinnen sind, dieses Ahnen des
Nichtwahrnehmbaren ist in der
deutschen Kunst noch kaum da-
gewesen. Es erinnert an die Hell-
dunkelstimmungen der Niederlän-
der und die Farbensymphonien des
James Whistler, der den Absolu-
tismus der Farbe verkündet.

Die absolute Kunst, die Kunst
an sich: dies ist es, was dieser
Ausstellung ihren Werth und ihre
Bedeutung verleiht. Eine Kunst,
die weder religiös noch socia-
listisch angehaucht ist, die weder
erzählt noch reformirt. Rumpler
gehört nicht zu den Malerdichtern
und Malerphilosophen, die in Eu-
ropa den Neuidealismus geschaffen
haben. Zwischen geistig-psychischen
und rein künstlerischen Werthen
unterscheiden zu können, ist ein

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 438, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0438.html)