Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 432
Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)
Text
genug geachtet, nicht genug geliebt. Sie wollen in erster Linie bessere,
vollkommenere, harmonischere Menschen sein, um sich dann auch als
glücklich liebende Frauen bethätigen zu können.
Sprechen wir zunächst von der socialen Lage der Mitglieder der
ersten Kategorie. Diesen geht es wirklich herzlich schlecht. Wer die
Wiener Enquête über die Frauenarbeit1) auch nur flüchtig durch-
gelesen, der wird wohl geraume Zeit einen sehr unangenehmen Ein-
druck nicht los. Diese Lectüre wirkt wie ein sehr bitteres Getränk,
von dem wir noch lange den Nachgeschmack behalten. Man erfährt
daraus, dass die meisten in den verschiedenen Industriebranchen be-
schäftigten Frauen und Mädchen im Durchschnitt drei bis vier Gulden
per Woche verdienen, dass in vielen Berufen die Mittagspause nicht
einmal eine halbe Stunde dauert, dass oft auch in besseren Betrieben
die Fabriksordnung eine überaus strenge ist, ja dass es in manchen
Fabriken den Arbeiterinnen bei Geldstrafe verboten ist, ein Wort zu
reden. Man kann da lesen, wie schwierig in manchen Zweigen, be-
sonders in der Putzbranche, die Lehrlingsverhältnisse sind und wie sehr
das weibliche Personal in gewissen Industrien von Inspectoren und Auf-
sehern aller Art persönlich abhängt. Am traurigsten aber sind die
Wohnungs- und Nahrungsverhältnisse. Ganze Familien bewohnen oft
eine einzige elende Kammer, sind doch die Wohnungspreise in Wien
(selbst für Kleinbürger) sehr hohe. In den Ziegelwerken bewohnen
sogar drei, vier und noch mehr Familien einen einzigen Raum, dessen
Fussboden aus Ziegeln besteht. Die Nahrung ist durchwegs eine sehr
mangelhafte. Schlechter Kaffee bildet gewöhnlich die tägliche Haupt-
mahlzeit. Berufskrankheiten aller Art machen sich oft geltend; sie
bilden eine schier endlose Scala von den Leiden, welche beim Lumpen-
verarbeiten und Hadernsortiren entstehen, bis zu den Berufskrankheiten
der Blumenmacherinnen,2) von der Bleichsucht der Näherin bis zu den
chronischen Leiden der Choristinnen. Sehr bezeichnend sind auch
die Daten über das Verhältniss der Entlohnung der Frauenarbeit gegen-
über der Männerarbeit.3) — Wenn man in Betracht zieht, dass es ein-
geschüchterte, oft nicht besonders intelligente und geschulte Geschöpfe
waren, die die Aussagen vor der Enquêtecomraission machten, wenn
man ferner bedenkt, dass Trotz, Schamhaftigkeit und vor Allem Eitel-
keit ein Hinderniss für die Erfahrung der vollen und ganzen Wahrheit
naturgemäss bilden mussten, so bekommt man ein schreckliches Bild
von der Lage der Wiener Arbeiterinnen. Hiezu kommt noch, dass es
sich in dieser Enquête zumeist um wirthschaftliche und rein sociale
Phänomene handelt. Diese menschlichen Wesen aber, diese Arbeiterinnen
mit den drei, vier Gulden Durchschnittsgehalt, müssen noch alle Schmerzen
der Mutter und Gattin erdulden, müssen unter jenen elenden wirth-
1) Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Wiener Lohnarbeiterinnen.
Wien 1897. Ign. Brand.
2) Die Arbeits- und Lebensverhältnisse etc., S. 60.
3) S. 308, 311, 420, 422, 427, 508.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 432, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0432.html)