Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 433
Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)
Text
schaftlichen Verhältnissen die Qualen der Eifersucht und das Weh ver-
schmähter Liebe mitertragen.
Man glaube nicht, dass diese Verhältnisse etwa nur ausnahms-
weise in Wien zu Tage treten. Aus einem Berichte über die Lage der
Arbeiterinnen in Italien geht hervor, dass dort von allen Ländern die
Frau am meisten arbeiten müsse. Der Arbeitstag der Frau ist so lang
wie der des Mannes und dauert 9—14 Stunden (manchesmal sogar 18).
Die Löhne sind zumeist schlecht. Selbst Elitearbeiterinnen, wie die
toscanischen Strohflechterinnen, bekommen für zwölfstündige Tagesleistung
eine elende Entlohnung. (Nur in zwei Branchen, der Tabaksmanufactur
und der Korallenbearbeitung, schwankt der Tageslohn von zwei bis fünf
Lire.)1) Crass springt auch in Italien die Thatsache in die Augen, um
wie viel schlechter die Frauenarbeit bezahlt wird. In der Weberei
z. B. bekommt ein geübter Arbeiter 5·40 Lire, ein Lehrling 2·15 Lire,
eine geübte Arbeiterin 1·55 Lire.
Um alle die Uebelstände, unter denen das weibliche arbeitende
Proletariat so sehr leidet, zu beseitigen, wird eine ganze Reihe von
Forderungen aufgestellt, die ich voll und ganz unterschreibe. So bin
ich dafür, dass nach dem Muster der Vorschläge des englischen Mini-
sters Asquit an der Fabriksinspection auch Frauen in bedeutendem
Masse betheiligt werden. Ferner bin ich für eine grössere Ausdehnung
des weiblichen Arbeiterschutzes und für ein ganz anderes Tempo in
der Verringerung der Arbeitszeit für die Arbeiterinnen als für ihre
männlichen Gefährten. Die Hauptsache aber scheint mir die Einbringung
von Gesetzesvorlagen zu sein, nach welchen der Lohn der Arbeiterin
allmälig dem des Arbeiters gleichgestellt werde. Es wäre wohl am
angebrachtesten, wenn man mit den Staatsateliers und den unter Ober-
aufsicht der Communen stehenden Fabriken beginnen würde, wobei
allerdings zu bemerken ist, dass gerade in solchen Gruppen von Be-
trieben gewöhnlich männliche Arbeitskräfte vorzuherrschen pflegen.
Bei der Verbesserung der Lage der Proletarierin handelt es sich
in erster Reihe nicht um das Geschlecht. Mit Recht hat
Fr. Engels schon vor Jahren betont, dass eine gewisse Emancipation
unter dem Druck der wirthschaftlichen Verhältnisse sich hier von
selbst vollziehe. Aber es handelt sich nur um eine bestimmte Gattung
der Emancipation, um die rein ökonomische, also ganz unvoll-
ständige Gleichberechtigung. Wie unter der Pression der capitalisti-
schen Gesellschaftsformation tausende und abertausende von Arbeitern
zu socialdemokratischen Bataillonen formirt werden, so bildet sich
durch das rein mechanische Walten starker Industrien das selbst er-
werbende, ökonomisch mitberathende und mitbestimmende Weib aus.
Wie sehr mit der Erfüllung aller Forderungen rein materieller
Natur auch für die Proletarierin die Frauenemancipation noch lange
nicht erreicht ist, beweisen die Aeusserungen proletarischer
1) Siehe: Der internationale Congress für Frauenwerke etc. Berlin 1897.
S. 204, 205 ff.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 433, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0433.html)