Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 434
Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)
Text
Frauenrechtlerinnen. So sagt Frau Zetkin wörtlich:1) »Alle jene Re-
formforderungen, welche aufgestellt werden, um der Geschlechtssclaverei
des Weibes ein Ende zu machen, das sind Forderungen, für die auch
wir eintreten und für die wir seit Langem eingetreten sind mit einer
Klarheit und einem Zielbewusstsein, welche bis jetzt die bürgerlichen
Frauenrechtlerinnen noch nicht an den Tag gelegt haben. Wir kämpfen
seit Jahren für die politische Gleichberechtigung, für das Vereins- und
Stimmrecht u. s. w. «
Also nicht allein mit Arbeiterschutz und hygienischen Mass-
regeln, ja nicht einmal mit dem blossen Classenkampf begnügen sich
die proletarischen Frauenrechtlerinnen. Die Geschlechtssclaverei
wollen sie beseitigen. Auch sie bäumen sich gegen den Mann auf. An
anderer Stelle sagt Frau Zetkin mit grösster Klarheit, dass die bürger-
lichen Frauenrechtlerinnen den Proletarierinnen hauptsächlich durch die
Erlangung des Stimmrechts nützen könnten. Also schon hier zeigt es
sich deutlich: das Stimmrecht, das Stimmrecht allein ist der
äussere Rahmen für die tieferen Bestrebungen der Frauenrechtlerinnen,
Bestrebungen, welche auf eine Emancipation des fünften Standes
hinauslaufen.
Wir gelangen nun zu den eigentlichen Ueberzähligen, zu den
weiblichen Mitgliedern der kleineren und mittleren Bourgeoisie, die
meist nicht heiraten können. Es lässt sich nicht leugnen, dass hier das
Problem mit der Bevölkerungsfrage zusammenhängt. In Deutschland
allein gibt es eine Million eigentlich überzähliger und ausserdem
5 Millionen lediger Frauen zwischen 17 und 50 Jahren, davon ein
grosser Theil Witwen und Geschiedene, die allein für sich sorgen
müssen. In ganz Europa überwiegt das weibliche Geschlecht. Auf 1000
Männer kommen 1024 Frauen. Die Thatsache des Ueberwiegens der
weiblichen Bevölkerung macht sich gerade im Mittelstand sehr fühlbar.
Die Grossindustrie schafft immerhin Arbeitsmöglichkeit für die Proleta-
rierin. Wie kümmerlich sich auch das arbeitende Weib durchschlagen
muss, bis zu einem gewissen Grade lebt es standesgemäss, d. i., rein
ökonomisch gesprochen, nicht viel unter dem wirthschaftlichen Niveau
des männlichen Gefährten. Eine ähnliche Fülle von Arbeitsbedin-
gungen und Arbeitsmöglichkeiten würde es für das Weib der mittleren
und kleinen Bourgeoisie nur in dem einen Falle geben, wenn all die
unversorgten weiblichen Elemente dieser Classe studiren dürften und
sich nachher in den freien Berufen bethätigen könnten. Also lautet hier
consequenterweise die Hauptforderung: Her mit dem Frauenstudium,
ebnet uns die Wege zur Mittelschule und vor Allem zur Universität!
Ist nun das Weib überhaupt fähig zum Studium, und besitzt es
dieselben geistigen Dispositionen wie der Mann? Hat es auch nur in
rudimentärer Form die Neigung zum wissenschaftlichen Denken? Ist
bei ihm auch nur annähernd wie beim Mann »das metaphysische Be-
dürfniss«, die Lust zum Philosophiren, die Tendenz zur Abstraction und
1) Der Internat. Frauencongress, S. 394.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 434, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0434.html)