Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 435
Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)
Text
die Befähigung zum Verallgemeinern, ohne die es auch keine Special-
wissenschaft, keine Methodik, keine Entwicklung der Einzeldisciplinen
gibt, vorhanden? Wollte man bei Behandlung dieser Probleme in die
Tiefe gehen, so müsste man schon auf die psychologisch-erotische Seite
der Frage zu sprechen kommen. Aber selbst wenn wir an der Ober-
fläche der Dinge bleiben, können wir einige schwere Bedenken nicht
unterdrücken.
Die Frauen wollen studiren. Ist es da nicht rathsam, vor Allem
sich bei den Universitätsprofessoren zu erkundigen, die bereits gewisse
Erfahrungen gemacht haben? Man weiss, wie sehr sich Carl Vogt,
Professor Albert und in allerjüngster Zeit ein berühmter Gynäkologe
gegen Frauenbewegung und Frauenstudium ausgesprochen haben, Aber
das sind schliesslich vereinzelte Stimmen, und so sehen wir uns denn
am besten diesbezüglich nach der Sammlung von Gutachten um,
welche über 100 Urtheile deutscher Universitätslehrer enthält.1) Kate-
gorisch gegen das akademische Studium des Weibes sprachen sich in
Gesammtheit nur die Vertreter eines Faches aus. Die Historiker sind
es, welche davor warnen, den Damen die Geschichte anzuvertrauen.
Alle Methodik würde darunter leiden. Die Geschichte würde zur
Anekdotensammlung, die Historie zum Klatsch herabsinken. — Im All-
gemeinen gibt es wenig begeisterte Anhänger des Frauenstudiums
unter den Begutachtenden, aber auch sehr wenig directe Gegner.
Ich glaube, dass man mit einer gewissen Vorsicht den Frauen
die Hallen der Universität wird öffnen können. Mathematik und ähn-
liche Fächer mögen sie ruhig studiren. Das Menschengeschlecht kann
fünfzig mittelmässige Mathematiker mehr ganz gut vertragen. Mit der
Medicin mache man ein grosses und, um es gerade heraus zu sagen,
ein überaus gewagtes Experiment. Man lasse die Frauen überall zum
Studium zu und promovire sie unter denselben Bedingungen wie die
Männer. Nach zwanzig Jahren wird man Daten genug darüber haben,
ob man weiter gehen kann, ob man den absolvirten Aerztinnen
Assistentenstellen, Leitung von chirurgischen oder geburtshilflichen Ab-
theilungen anvertrauen darf u. s. w. Es gibt da eine seltsame An-
passungsfähigkeit. Die Frauen werden zu zeigen haben, ob sie die-
selbe besitzen, ob sie imstande sind, die Muskelkraft des Mannes
und eine jahrhundertalte Tradition zu ersetzen durch ein gewisses
medicinisches Errathungsvermögen, durch Findigkeiten und Fertigkeiten,
die den Männern nicht eigen sind. — Juristinnen dürfen sie natürlich
nicht werden, so lange sie die politischen Rechte nicht im vollen
Masse besitzen.
Ganz anders verhält es sich nun mit denjenigen Frauen des
Bürgerstandes, welche gewisse nichtakademische Stellungen und Aemter
bekleiden, den Comptoiristinnen, Telegraphistinnen, verschiedenen weib-
lichen Beamten u. s. w. Lohnerhöhungen, geringere Arbeitszeit, Mög-
1) Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren
über die Befähigung der Frauen zum Studium. Berlin, H. Steinitz, 1897.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 435, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0435.html)