Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 436

Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 436

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436 WEISENGRÜN.

lichkeit, sich zu organisiren, das sind schliesslich recht bescheidene
Forderungen, die man nach Thunlichkeit erfüllen soll. Hier ist kein
grosser Unterschied zwischen den weiblichen Angestellten und den
Arbeiterinnen. Die Forderungen sind also mit demselben Masse zu
messen.

Es bedarf wohl keines besonderen Hinweises darauf, dass gerade
die Vertreterinnen dieser Schichte mit der grössten Heftigkeit das
allgemeine Stimmrecht fordern. Durch diese Forderung aber gelangen
die Frauenrechtlerinnen von einzelnen praktischen Wünschen und
ökonomischen Aspirationen zum Abstreifen jener allgemeinen Ge-
schlechtssclaverei, von der im Einverständniss mit bürgerlichen
Frauenrechtlerinnen Frau Clara Zetkin sprach und spricht. Sie wollen
keine »Damen« mehr sein, sondern in erster Linie Menschen. Den
Frauen politische Rechte ertheilen, heisst ihnen dieselbe Rolle im
socialen Organismus anvertrauen wie den Männern. Diese Rechte
sollen doch auch benutzt werden! Es hat nur dann Sinn, den Frauen
politische Rechte einzuräumen, wenn man überzeugt ist, dass sie bisher
in einer Geschlechtssclaverei gelebt haben, die es nun zu durch-
brechen gilt. Geringere Arbeitszeit, das Aufsuchen neuer, gewinn-
bringender Erwerbszweige, Unterstützung der Forderung des akademi-
schen Studiums — das Alles kann man den Frauen zusichern, ohne
davon überzeugt zu sein, dass das Weib in einer Geschlechtssclaverei
schmachtet. Das Weib ist von Natur Mensch an sich ohne Bei-
hilfe des Mannes, sagt eine Frauenrechtlerin. Das möchte ich aber
eben bestreiten. Die Frau ist Nichts ohne Beihilfe des Mannes, sie
bedarf psychisch desselben noch mehr wie physisch. So hängt die
Frage des allgemeinen Stimmrechtes direct mit der psychologisch-
erotischen Seite des Frauenproblems zusammen, und man kann ein
Anhänger einzelner Forderungen der Frauenrechtlerinnen sein, ohne in
ihr Ultimatum einzustimmen.

Es bleibt jetzt die dritte Kategorie, die Classe der psychisch Un-
zufriedenen übrig. Hier wimmelt es von Ursachen, die mit den socialen
Triebkräften nicht in organischer Weise zusammenhängen. Schlecht
verheiratete Frauen, allzu kalte und allzu verliebte Geschöpfe, hysterische
Weiber und Blaustrümpfe schlimmster Art bilden mit wenigen allzu
mimosenhaften Frauen diese Kategorie. Ihnen wird auch das allgemeine
Stimmrecht nur wenig nützen. Ihre tiefsten Forderungen und geheimsten
Wünsche liegen jenseits der bürgerlichen Emancipationsbestrebungen,
jenseits der Forderungen der Proletarierinnen. Hier hat nur der Psycho-
loge ein Recht zu fragen und einen Grund zu forschen.

Wir haben gesehen, wie das Stimmrecht allein den Rahmen für
die tieferen Bestrebungen der Frauenrechtlerinnen bildet, Bestrebungen,
welche auf eine Emancipation des fünften Standes hinauslaufen. Dieser
Satz wird vielfach bestritten werden. Wie, sollte die Frauenemancipation
lediglich in dieser einen Forderung bestehen? Kopfschüttelnd werden
die Meisten sich beeilen, das zu verneinen. Aber sie werden Unrecht
haben. Die Frage des Stimmrechtes ist in der That die wichtigste

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 436, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0436.html)