Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 504
Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)
Text
liegt dieselbe erkenntniss-theoretische Schwierigkeit vor, wie wenn wir
mit unseren so kümmerlichen, einseitigen, nur dürftigen Zwecken ange-
passten Sinnen und Organen die Natur ganz erfassen wollen, die an
sich ebensowenig schön oder hässlich, grausam oder nützlich ist wie
das Weib. Sicherlich stecken alle Beurtheilungen der Natur und des
Weibes in uns, und aus diesen Beurtheilungssphären und Beurtheilungs-
möglichkeiten können wir nie und nimmer hinaus. Doch besitzen wir
nun einmal den metaphysischen Trieb, die Natur trotz alledem zu er-
kennen, und mühsam und unsicher tappend gelangen wir ja doch immer
einen Schritt weiter; nur dauert unser Erkenntnissprocess eben unendlich
lang. Nicht viel schlechter und nicht viel besser geht es uns mit dem
Weibe. Das Weib hingegen hat das metaphysische
Be-
dürfniss
nicht. Sie greift, psychisch gesprochen, nach dem Manne
wie der Wilde nach Mond und Sonne. Der Mann an sich existirt
für das Weib nicht.
Es handelt sich hier in der That um ein erkenntniss-theoretisches
Problem, das nach der praktisch-psychologischen Seite tiefer greift als
alle anderen Fragencomplexe. — Die Art und Weise, wie wir bisher
in das Geschlechtsleben des Weibes einzudringen suchten, war eine
verkehrte. Unser Ausgangspunkt war das rein geschlechtliche Leben
des Weibes und der Zusammenhang dieses geschlechtlichen Lebens mit
der Bedingtheit eines geistig selbstständigen Daseins. Nun wissen wir
vom Geschlechtsleben des Weibes ausserordentlich viel und doch so
ausserordentlich wenig. Nach einer Richtung kann schon mancher
dreiste Gymnasiast vielerlei erzählen, nach der anderen würde Shake-
speare in Verlegenheit gerathen. Gestehen wir es nur ein. Wir legen
in diese elementaren Gefühle allerlei herein. Theils aus Eitelkeit, theils
aus Mangel an Beobachtungskunst täuschen wir uns schon vielfach über
den Umfang, Grad etc. der Geschlechtslust beim Weibe. Wie misslich
muss es erst mit unserer Erkenntniss so complicirter Phänomene wie
der individuellen Liebe des Weibes bestellt sein, wenn wir sogar über
jene gewisse, scheinbar bei beiden Geschlechtern analoge Grundempfin-
dungen zum Theil im Unklaren sind? Die anscheinend einfache Frage,
ob das Weib sinnlicher ist als der Mann, ist für den Frauenkenner mit
einem directen Ja oder Nein nicht zu beantworten. Das Schlimmste an
der Sache ist, dass uns die Frauen, wären sie auch noch so ehrlich,
einen Theil unserer Fragen gar nicht beantworten könnten. Sie
er-
rathen
nicht immer, wonach wir eigentlich fragen. Wie
kommt man über diese fundamentale Schwierigkeit nur einigermassen
hinaus? Wir sind gezwungen, die Psychologie des Weibes nicht
als Ganzes aufzufassen, sondern als eine Reihe loser,
unzusammenhängender, einzelner Seelenanalysen, die
wir überall und nirgends aufgelesen haben
Die gewöhnliche Auffassung, welche davon ausgeht, dass dass
Weib die von vielen Frauenrechtlerinnen angenommene innerliche Un-
abhängigkeit nicht besitze, weil sie physisch zu schwach sei, ist einfach
unpsychologisch; genau so unpsychologisch wie die Ansicht, dass
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 504, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0504.html)