Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 506
Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)
Text
durchdringt und durchzittert, ohne Alles aufzusaugen. Ich will ver-
suchen, die höheren psychologischen Momente des Weibes zu erfassen,
Factoren zu skizziren, die für die Frage der inneren Selbstständigkeit
oder Unselbstständigkeit des Weibes viel massgebender sind als alle
Nur-Weibchen-Erotik.
Anders als der Mann sieht das Weib die Dinge dieser Erde.
Wo für uns Alles wie von einem Nebel umhüllt erscheint, sieht sie
klar, und Regionen, wo die begabtesten Geister unter uns erst athmen,
die Zonen unserer Höhenatmosphäre sind für sie Stickluft. Wir dürfen
von unserem erkenntniss-theoretischen Standpunkt aus nicht sagen, dass
wir alle die höheren Weibeigenschaften richtig auffassen oder nicht.
Wir können nur sagen, wie wir sie vom Männerstandpunkt aus sehen,
und nach Aeonen werden wir das Weib eben nur vom Männerstand-
punkt aus sehen können. Was das Weib will, ist im Ganzen und
Grossen identisch mit dem, was der Mann will. In den Sphären der
Machtinteressen, im Ringen um die Herrschaft im Jubel des Sieges, in
der Freude am Unterwerfen, im Wollen grossen Styls ist das Weib
noch einigermaassen dem Manne ähnlich. Das Weib, das Geschäfte
macht, die Frau, die regiert, erscheint vom Manne nicht so sehr ver-
schieden. Sie ist in ihrem Handeln und Streben, ihrem Thun und
Lassen mit dem Manne insofern identisch, als man hier abstrahiren
kann vom specifisch Weiblichen. Man spricht davon, dass die
machtbegierigen Frauen, die grossen Herrscherinnen und Messalinen
genau wie die Männer agiren. Wie falsch, wie psychologisch einseitig!
Das heisst den Messalinentypus verkennen, nimmt man an, hier ähnle
das Weib dem Manne, weil es die Geliebten in rascher Folge wechselt.
Liegt in diesem Wechseln etwas Anderes als die Thatsache
der-
selben
Machtgier, desselben Wollenkönnens, derselben rein
äusseren, gleichsam technischen Regierungskunst? Sind die
Sensationen oder sogar nur die Art des Wechsels der Sensationen
dieselben wie beim männlichen Despoten, weil die Zahl der Geliebten
dieselbe ist? Ich habe schon vorhin angedeutet, dass wir über die
Stärke der weiblichen Sinnlichkeit und ihre Aeusserungsformen noch
sehr im Dunkeln sind. Wie äusserlich ist es nun, gerade in der Psycho-
logie des Messalinentypus die Frau mit dem Manne identificiren zu
wollen, auf Basis des eben unidentificirbaren Grundempfindens und
Hauptinstinctes selbst. Identisch ist hier nur das Formale, nur das
Wollen, nur das Begehren. Man spricht heutzutage so viel davon, dass
die Frau dieselbe Cultur haben müsste wie der Mann. Die gebildeten
und vor Allem die höchstgebildeten Frauen der Renaissance hatten
mit den Männern die Cultur jener Zeit gemeinsam, sie hatten sie in
manchen italienischen Städten und in England. Zu Shakespeare’s Zeiten
konnten viele Damen ebenso gut, vielleicht besser Lateinisch und
Griechisch als ihre Cavaliere.1) Diese Gleichheit der Cultur brachte
1) Vgl. über die diesbezüglichen Culturzustände Jacob Burckhardt’s »Cultur
der Renaissance«, II., 123 ff.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 506, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0506.html)