Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 508
Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)
Text
überblickt das Milieu wunderbar, sieht aber selten weit genug. Vor
Allem aber kommt sie in theoretischer Beziehung im Aufweisen und
Aufzeigen von Perspectiven und Formeln nicht aus dem Subjectiven
heraus. So kann sich das Weib nicht objectiviren, weil sie gleichsam
in tausend Nuancen denkt.
Andere Werthe als der Mann hat das Weib. Selbst directe An-
hänger der Frauenemancipation sprechen von Unterwürfigkeit und Ver-
stellung, von Sclaventugend und Sclavenlaster. *) Ich gehe nicht einmal
so weit. Aber sicher ist es, dass ihre Vornehmheit eine andere ist
wie die unsere, schon weil ihr Distancegefühl ein anderes ist. Das
Weib will die prächtigen Werthe, die Vornehmheit, die übersinnliche
Gewalt eben anders als wir. Man sehe doch an, welche Art von
Männern die intelligentesten und begabtesten Frauen lieben. Auch hier
lässt sie das Distancegefühl sehr häufig im Stich. Ich spreche natürlich
nur von den erlesenen Weibern, die wirklich die Vornehmheit am
Manne lieben. Diese goutiren meistens den wirklich grossen, ausser-
ordentlich begabten, phänomenalen Mann nur wenig. Er ist ihnen
zu gewaltig, zu wahrhaft vornehm, zu sehr Löwe. Napoleon hat den
Frauen, wie wir aus dem instructiven Buche von Masson erfahren,
eigentlich sehr wenig gefallen. Er hatte keine Zeit dazu, wird man
sagen. Oh! manche vielbeschäftigten Chopin-Spieler, manche tüchtigen
Jockeys und manche Komiker, die ihre Rollen lernen, haben ebenso-
wenig Zeit übrig. Aber die Frauen haben Zeit für sie, weil ihnen eben
eine komische Geberde oder ein schöner Lockenkopf, je nach Ge-
schmack, »interessanter« erscheint als der Kanonendonner der Schlachten
und das Errichten grosser Staaten. Ja, »interessant« — das ist der
vornehmste Werth des Weibes, hier liegt der tiefste Schlüssel zur
Frauenpsychologie. Man kann ohne Uebertreibung sagen: Was dem
Manne vornehm ist, ist dem Weibe interessant. Sie langweilen sich alle,
die guten Geschöpfe, wenn sie nicht ganz hausbacken, nicht ganz trivial
sind. Sie sind sensationslüstern in allen Perioden der menschlichen
Geschichte gewesen und haben zum guten Theil das Wesen der Dé-
cadence selbst vor den Décadents gefunden. Man lese das Tagebuch
der Maria Baschkiewitsch. Warum hat dieses gequälte Mädchen wie
eine Wahnsinnige gearbeitet? Sie sagt es selbst: sie langweilte sich.
Schon als Kind war nicht Vornehmheit, sondern »Interessantsein« ihr
Ideal, und so verliebte sie sich später in einen interessanten Prinzen,
einen Dummkopf, der sicherlich ebensowenig gehalten hat, wonach
ihre Sinne verlangten, als wonach ihr Geist dürstete. Ja, die Frauen
haben andere Werthurtheile als wir. Der Fall Sofia Kowalewska ist ein
Pendant zum Hamlet, sie ist der weibliche Hamlet selbst. Nun denke
man ernstlich darüber nach, wie der Unterschied zwischen Wollen und
Können sich beim Manne und wie er sich beim Weibe äussert. Wäre
die Kowalewska kein weiblicher Hamlet gewesen, sie hätte sich den kräftigen
russischen Bojaren schon geholt, das hat ja schon manche Putzmacherin
1) Das Weib in ihrer Geschlechtsindividualität, a. a. O. S. 745.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 508, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0508.html)