Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 509
Gegen die Emancipation des Weibes (Weisengrün, Dr. Paul)
Text
oder Choristin fertiggebracht. Während Hamlet aber nun aus seiner
Seelennoth und den Mängeln seiner geistigen Organisation sich zu einer
gewaltigen Philosophie emporringt, verharrt die Kowalewska in den
niederen Regionen ganzer Subjectivität. Hier springt der Unterschied
fast grob ins Auge; wer dies nicht zu lesen vermag, hat einfach keinen
Blick für Psychologie.
Wir nähern uns unserem Ziel. Wir haben gefunden, ohne uns in
die Subtilität der Geschlechtspsychologie des Näheren einzulassen, dass:
1. die Frau ihres nuancirten Denkens wegen sich nicht objectiviren
kann; 2. dass sie andere Werthe besitzt als wir. Nun hat das Weib
aber die Tendenz, wie alle Frauenrechtlerinnen versichern, unsere
Cultur zu theilen, die nun einmal eine Mannescultur ist, eine anti-
weibliche Cultur, eine anders vornehme Civilisation, eine auf dem-
selben Wollen, aber anderem Denken beruhende, von einem anderen
Geist durchtränkte Reihe von Weltanschauungen ist. »Das ist des mo-
dernen Weibes Sehnsucht, des Mannes ebenbürtige Gefährtin zu werden.«1)
Ebenbürtig heisst doch hier nichts Anderes als culturgleichartig zu sein,
gleichwerthige Genossinnen derselben Weltanschauung, derselben Civilisa-
tionsmomente. Denn auf etwas Anderes kann sich diese Sehnsucht nicht
beziehen, und gemeint ist sicherlich nicht die möglichst gleichmässige
Vertheilung materieller Güter. Nun ist das Problem auf die präciseste
Form gebracht. Das Weib will an unserer Mannescultur theilnehmen.
Sie kann gar nicht anders, das versichern auch die Frauenrechtlerinnen.
Sie will weder, noch kann sie eine specifische Cultur schaffen, also ist
sie geistig abhängig vom Manne und steht unter dem Zwang der
Mannescultur für immerdar. Diese »Sclaverei« der Frau, die »Geschlechts-
sclaverei« (auf dieser Grundlage findet sich ja Frau Zetkin mit den
bürgerlichen Frauenrechtlerinnen zusammen) ist eine ewige
Noth-
wendigkeit.
Fassen wir das Resultat unserer Betrachtungen zusammen. Als
wir vom rein formalen Standpunkte aus an das Problem der Frauen-
emancipation herantraten, sahen wir nur die äussere Seite desselben.
Wir konnten in der ganzen Bewegung zur Beseitigung der Unterdrückung
des Weibes formaliter nichts erblicken als eine Art Emancipationskampf
eines fünften Standes. Nun, es hat sich herausgestellt, dass eine ganze
Anzahl der Forderungen der Frauenrechtlerinnen berechtigt
sind, nicht aber ihre hauptsächlichste Forderung. Denn das allge-
meine Stimmrecht ist, wie wir gesehen haben, keine Forderung
der Proletarierinnen oder der Anhängerinnen der
Mittel-
classe, demnach keine Classenforderung. Sie kann sich somit
nur auf die Annahme einer Geschlechtssclaverei stützen. Diese An-
nahme ist hinfällig, folglich ist die Forderung des allgemeinen Stimm-
rechtes unberechtigt. Mit der Geschlechtssclaverei, mit der psychologi-
schen Identität der Geschlechter, mit der inneren Selbstständigkeit der
Frau steht und fällt das allgemeine Stimmrecht.
1) Das Weib als Geschlechtsindividualität von Frieda Freiin v. Bülow
a. a. O. S. 601.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 509, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0509.html)