Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 526

Blanche (Schmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 526

Text

BLANCHE. I.

Ich liebe dich wie eine weisse Blume,
Die man im Grüne theurer Gräber fand,
Denn früh entsagte ich der Lust, dem Ruhme.

Die Kindheit wich an sängelosem Strand
Wie eine Nacht, durchglüht vom Sonnengolde
Des Traumes aus der Sehnsucht buntem Land.

Du weckest Saitenspiel, und deine holde —
Der Jugend Spur erfüllt den lichten Raum:
Ein Duft ein Band und eine Fliederdolde.

Im Garten steht ein dunkler Eibenbaum,
Er lauscht und rauscht von fernem Alterthume;
Ich singe Nachts in deinen stillen Traum.

Er lauscht und rauscht mein Lied im stillen Traum:
Ich liebe dich wie eine weisse Blume.

II.

Das lichte Birkengrün an Sonnentagen
Erzittert in der Winde scheuem Kosen,
Die schweren Glockenklang herübertragen,

Ein Ton, der an des Klosters dunkle Rosen,
An qualmerfüllter Krypten güldne Pracht
Gemahnt und an das Weh der Liebelosen.

So zieht ein Beben durch die Frühlingsnacht
In deiner Seele, zart wie Birkenreis
(Bis sie zum grossen Sommerrausch erwacht),

Bei alter Lieder Klang, die klar und leis
Anheben, dann von bangen Schauern klingen
Und Leben hauchen, Leben wirr und heiss,

Den Wünschen gleichend, die im Busen singen,
Nur halb erwacht, noch halb in starrem Tod. —
Doch tragen dich der Dämmrung Silberschwingen,

Dann schaust du wissend in das Abendroth.

(Paris.) Oscar A. H. Schmitz.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 526, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0526.html)