Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 527
Text
Von Emil Schaeffer (Wien).
»Giardino publico! avanti, Signori!!« Sie stiegen langsam
aus dem kleinen Dampfer ans Land. Er reckte sich, blickte
sich um wie prüfend, blätterte im Baedecker und las laut:
»Der Giardino publico, ein hübscher Volksgarten, 1807 durch
Abbruch mehrerer Klöster von Napoleon I. geschaffen. Am
südlichen Ende ein Hügel mit einem kleinen Kaffeehaus«
Dann schritt er zur nächsten Bank.
»Wollen wir denn nicht durch den Park gehen?«
»Offen gestanden, nein; ich bin ein bischen müde von
dem Kirchendurchlaufen, und einen schöneren Platz zum
Sitzen können wir ja unmöglich finden «
Er gähnte, räusperte sich zweimal, dann zog er sein
Journal aus der Tasche und begann zu lesen
Und sie starrte in den Abend
Flimmernder, gleissender Sonnenpurpur lag auf den
Fluthen; in goldenen Duft schien das Meer getaucht; hell-
schimmernde Strahlennetze spannen sich um San Marcos
Wunderbau; wie ein dünnes, unendlich zartes, durchscheinendes
Seidengewand schmiegte sich der Abend an die Kuppeln;
ein flüssiger Feuerball war aus der Kugel der Dogana
geworden; von San Zaccaria weinten schluchzende Abend-
glocken weit draussen am Meer stand ein rothes, ein
brennrothes Segel, und ganz in verlorener Ferne verschwamm
der graue Rauch eines Dampfers im blauen Silber des Hori-
zontes Farben Farben Glanz Duft Süden !!
An ihre Mutter dachte sie plötzlich, wie sie mit ver-
härmter Stimme zu ihr gesagt: »Wenn du einmal mit dem Mann,
den du liebst, im Giardino publico sitzen wirst und die Sonne
geht unter, dann hast du das Paradies auf Erden « Sie
schielte mit einem bösen, hässlichen Blick auf den Mann, der
ihr zur Seite sass Mit dem Mann, den du liebst Um
ihren Mund zuckte es, aber kaum merklich
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 527, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0527.html)