Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 528
Text
»Du, was ich las, der Gustav ist endlich aus seinem Nest
versetzt worden, nach Wien sogar, hier steht’s im Verordnungs-
blatt.«
»So «
»Ja, freut dich so was denn gar nicht? Er ist doch
eigentlich dein Cousin!«
»Ja, es freut mich «
Stille
Er las und sie starrte in den Abend
— Künstlerin sein, die Brücke schlagen können
vom dürren, harten Boden der Wirklichkeit zum blühenden
Traumland und dann über die leichte Brücke schreiten
eine Königin im wallenden Purpurkleid, Rosen, heisse,
dunkle, in’s Haar gekränzt dann könnte sie’s vielleicht
ertragen vielleicht das andere Land, die Insel der
Seligen fühlen, ahnen, fiebernd ersehnen aber so
nie nie
Er stand auf, faltete die Zeitung und schob sie in die
Tasche.
»Du willst schon gehen? und der Sonnenuntergang? Wir
sind doch seinetwegen hergekommen.«
»Ja, Kind, aber ich will dem Gustav heute noch gratuli-
ren; es wird ihn freuen, dass wir auch in der Ferne an ihn
denken.«
»Geht das denn wirklich nicht später?«
»Nein; Abends kann ich nicht schreiben, denn die Post
wird schon um 8 Uhr ausgehoben, und zur Table d’hôte mag
ich auch nicht zu spät kommen, das ist Parvenu-Noblesse.«
Sie neigte stumm das müde Haupt.
»Mit dem Mann, den du liebst« das verfolgte sie, die
sechs Worte, wie ein Coupletrefrain, wie ein Gassenhauer
Mit dem Mann, den du liebst
Sie wusste selbst nicht, warum und wieso, plötzlich
brach sie einen zarten, weissblühenden Akazienzweig, führte
ihn zum Mund, küsste ihn, küsste ihn heiss und lange.
»Was machst du denn da? Die Leute schau’n ja schon her!«
In ihrem grauen, sonst so kalten Blick stand einen
Augenblick etwas wie mordender Hass, wie Gier nach Blut
»Ich nehme Abschied,« keuchte sie mühsam.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 528, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0528.html)