Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 531
Text
Und Alles ist Götzenbild, was den Menschen unfrei
macht — so ist er schuldig vor Allen, nur nicht vor sich
selbst.
Finster und ernst und kalt starrt ihn das steinerne
Götzenbild an — sicher und siegesgewiss.
Steinern und hart liegt es vor ihm — es ist die Un-
freiheit, die Unwahrheit, die Blödheit, die Tödtung des Selbst.
Und sie will er vernichten, der dasteht in seiner kühnen
Mannheit. Sein Geschoss glüht und brennt, das er in der
Hand schwingt, zu vernichten die Lüge, die Unfreiheit, die
Götzen —
Vergebener Kampf! Das Geschoss fliegt hinaus — aber
der steinerne Moloch liegt da — ruhig, kalt, hart, finster wie
zuvor — und vernichtet ist der freiheitsdurstige Mensch, der
Kämpfer für „Wahrheit, schuldig vor den Gesetzen, schuldig
vor Gott — aber schuldfrei vor sich selbst.
Nacht — heilige, schweigende Nacht. Am Himmel
blinken die Sterne friedevoll, ruhig, mild.
Und es blickt zum Himmel das Weib, der Quell, das
Symbol der Menschheit, fragend und sehnend, gelehnt an
die grosse Sphynx, den Thierleib mit dem seltsamen Weib-
antlitz, gelehnt an die grosse Frage, die glühend und be-
gehrend und räthselhaft ist, wie das Weibantlitz, die grosse
Frage, die nur eine Antwort findet: den Thierleib.
Die grosse Frage: Warum gibt es eine Schuld? Und
der Mensch blickt gen Himmel, der daliegt in unergründ-
licher Klarheit und Reinheit, friedlich und mild.
Ringsum Natur — und in der Natur gibt es keine
Schuld. Steh da, du Mensch, und frage die Natur, sie wird
dir keine Antwort geben — Schuld gibt es nur, wo es
Menschen gibt.
Frage nicht den Himmel und die blinkenden Sterne,
wende dich um, Mensch, sieh dir an deine Frage, das selt-
same Weibantlitz, sieh dir an die Antwort: den Thierleib.—
Heilige, schweigende Nacht — am Himmel blinken die
Sterne, friedvoll und ruhig und mild.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 531, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0531.html)