Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 532
Text
Novelle von Anton Tschechoff (Petersburg).
Uebersetzt von J. W.
Fortsetzung.
Nikitin wohnte unweit von Schelestoff in einer Wohnung von
acht Zimmern, die er um dreihundert Rubel jährlich zusammen mit
Ippolit Ippolititsch, dem Lehrer für Geographie und Geschichte, ge-
miethet hatte. Dieser Ippolit Ippolititsch, ein noch nicht alter Mensch
mit einem rothen Bärtchen, stumpfer Nase, mit einem ziemlich ordinären
und unintelligenten, handwerkerartigen, aber gutmüthigen Gesicht, sass,
als Nikitin jetzt nach Hause kam, am Schreibtisch und corrigirte geo-
graphische Schulzeichnungen. Für das Wichtigste und Nothwendigste in
der Geographie hielt er die Landkartenzeichnungen, in der Geschichte
— die Kenntniss der Jahreszahlen; er sass ganze Nächte hindurch und
corrigirte mit blauem Bleistift die Landkarten seiner Schüler und
Schülerinnen oder stellte chronologische Tabellen zusammen.
»Was heute für ein herrliches Wetter ist!« sagte Nikitin, bei ihm
eintretend. »Ich begreife nicht, wie Sie im Zimmer sitzen können!«
Ippolit Ippolititsch war kein gesprächiger Mensch; entweder schwieg
er oder sprach über etwas, was Allen längst bekannt war. Jetzt ant-
wortete er:
»Ja, ausgezeichnetes Wetter. Jetzt sind wir im Mai, bald werden
wir den echten Sommer haben. Und der Sommer ist etwas Anderes
als der Winter. Im Winter muss man den Ofen heizen, im Sommer
ist es auch ohne Ofen warm. Im Sommer öffnet man des Nachts die
Fenster, und es ist doch warm, im Winter hat man Doppelfenster, und
es ist doch kalt.«
Nikitin sass einen Augenblick am Tische, dann wurde es ihm
langweilig.
»Gute Nacht,« sagte er, sich erhebend und gähnte. »Ich wollte
Ihnen etwas Romantisches erzählen, das mich angeht, Sie aber sind
doch die reine Geographie. Man beginnt mit Ihnen von Liebe zu
sprechen, und Sie sagen darauf: »In welchem Jahre war die Schlacht
an der Ralka?« Scheeren Sie sich sammt Ihren Schlachten und den
Franz Josefs-Inseln zum Teufel!«
»Warum sind Sie denn böse geworden?«
»Es ist zu ärgerlich!«
Es ärgerte ihn, dass er sich Manioussia noch nicht erklärt hatte
und mit keinem Menschen von seiner Liebe sprechen konnte; er ging
in sein Arbeitszimmer und legte sich aufs Sofa. Im Zimmer war es
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 532, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0532.html)