Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 538
Text
Von Juhani Aho.
Aus dem Finnischen von E. Stine.
Zu Anfang ist’s wie die Liebe zweier Kinder. Zart, unschuldig
und kühl. Es flammt nicht, es brennt nicht, es leuchtet nur. Offen-
herzig und ein wenig schelmisch blickt es drein und gelobt in seiner
zärtlichen Hoffnungsfülle, seine Verheissungen alle in einem Augenblick
zu erfüllen. Bis dass ein Regenschauer plötzlich herniederschlägt aus
einem grauen Himmel; bis ein kalter scharfer Wind den Gischt der
Seen aufjagt und an den Sträuchern zerrt; bis die ganze Welt so
hoffnungslos dreinsieht, als wäre es Herbst geworden statt Sommer und
als sei Alles nur Lüge und Betrug gewesen
»Wärst du in deinen Sommerländern geblieben, du armes kleines
Vöglein; wer hiess dich herkommen, um hier zu sterben Hier gibt
es nichts als Thränen und Frost und Leiden, und die Sonne erlischt
im nächtlichen Nebelmeere.«
Aber das Leiden schmerzt nicht wie wirkliches Leid, das Ge-
müth will sich nicht beugen lassen, und die Nacht hat kein Dunkel,
denn es ist ja fortwährender Tag. Und von demselben Pole, der uns
im Winter die Finsterniss sendet, kommt nun das Licht. Es wächst
mit jedem Morgen, es nähert sich Tag um Tag, es lüftet seine Decke,
und eines schönen Tages springt es plötzlich hervor, ganz als hätte es
nur Verstecken gespielt.
Eines Morgens ist es, als habe sich die Liebe geoffenbart, als
habe sie sich verrathen während der vergangenen Nacht. Der See
liegt da, ruhig und glücklich. Das Gras beginnt zu sprossen, die
Birken setzen junge Triebe an, die Vögel singen, der Kuckuck schreit
vom frühen Morgen bis zum Abend, und Lerchen schwingen sich von
jedem Felde in die Luft.
Es ist warm und ruhig. Keine Wolke am Himmel! Man ist nicht
imstande, etwas Ernstes vorzunehmen, man fühlt nur Lust, aus lauter
Wohlbehagen laut zu schreien und in seinem eigenen Glück zu schwelgen.
Es ist nicht zu warm und nicht zu kalt, es ist so schön, dass es schon
Glücks genug ist, zu sein und zu leben.
Immer wärmer wird die Luft, die Sonne thut so zutraulich, so
liebevoll, mit jedem Tage wird ihre Umarmung glühender, ihre Küsse,
mit denen sie die Flammen auf die Wangen jagt, feuriger. Die Vögel
schwatzen und schlagen ihre Purzelbäume von den Baumwipfeln herab
in die Büsche, die Mücken erwachen und stimmen ihre Musik an, die
Fische spielen beim Wiesenufer Fangen, der Kuckuck schlägt in grosser
Eile seine Doppeltöne, und die Luft ist wie lebend vor lauter
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 538, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0538.html)