Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 539

Vom Frühling zum Sommer (Aho, Juhani)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 539

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VOM FRÜHLING ZUM SOMMER. 539

Zwitschern und Gepiepe. Hingerissen entfaltet das Laub seine Schwingen.
Der Saft steigt aus dem Boden in die Birken, Vogelkirschbäume und
Ebereschen, die Blumen saugen ihn begierig auf, die graue Erde schlägt
in prächtigen Farben aus, das Torfmoor veredelt sich zu dem feinen
Duft des Haidekrautes — und die Natur bereitet das Hochzeitsfest für
alle lebenden Wesen.

Sie sind sich ihres Zweckes noch nicht bewusst, sie verstehen
nicht, was sie so wunderlich unruhig macht

Und das Samenmehl reift, der Blüthenstaub entwickelt sich in
seiner Hülle, und ein Geschlecht will sich dem andern in die Arme
stürzen. Immer tiefer wird das Himmelsblau, immer grüner die Berg-
halden, immer bunter der Blumenteppich der Wiesen, immer blauender
die Ferne und immer gesättigter von leichten Dünsten die Kuppel
des Meeres. Weit dahinter steigen weisse Streuwolken auf mit einem
Farbenton ins Rothbraune. Sie sehen aus wie aufbrechende Riesen-
blumen. Der Wind treibt sie hin und her, sie suchen sich warm und
sehnsüchtig, auch sie zieht es zu einander, sie schmelzen zusammen
und wachsen. Aber sie vermögen nichts, sie rücken kaum von der Stelle
und machen den Eindruck, als wären sie im Begriff, herabzufallen.
Abends zertheilen sie sich, sind aber am nächsten Morgen wieder da,
noch grösser als gestern und nur mühsam ihr Gleichgewicht erhaltend.

Sie stürzen übereinander. Die Luft bebt einen Augenblick und
hebt an, in leichter Brise überzufliessen. Die blühenden Samenstoffe
streuen ihren Staub über Wald, Feld und Wiese. Duftend streicht der
Blumenathem über Land und See. Ein Rauschen geht durch die Natur
wie durch einen Hochzeitssaal. Die Luft ist warm und drückend. Hand
will sich in Hand, Mund an Mund, Wange an Wange legen, und die
Lippen spitzen sich, um andern Lippen zu begegnen.

Ein Blitz flammt vom Himmel. Die Landschaft erröthet und er-
bleicht wie eine erregte Jungfrau. Eine Wolke stürzt sich der anderen
in den Schoss, und unter ihren Liebkosungen dröhnt die Erde und
wiederhallen die Berge. Das ist der Hochzeitsmarsch. Das ist der
Trauungspsalm, und ein Sturzregen lässt die Vorhänge des Braut-
bettes herab.

Eine kurze, wolkenschwere Nacht bringt Ruhe und Kühlung.
Ermüdet entschlummert die Natur, regt sich nicht, lässt nicht ein
Flüstern hören.

Am nächsten Morgen bläst ein nüchtener, gleichmässiger Wind.
Die Baumwipfel wehen, die Ackersaat wogt friedlich, die Wellen
murmeln in bester Ordnung, und das Antlitz der Natur trägt einen
ernsthaften, kühlen Zug. Ihre Verlobungszeit ist zu Ende, die Tage
der Freude sind vorbei, sie hat Hochzeit gehalten und Flitterwochen
gefeiert. Nun trägt sie an ihrer Frucht, entwickelt ihre Keimstoffe und
breitet sich auf ihre Aufgabe vor: die Ernte.

Der Lenz ist vorbei, der Sommer ist da.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 539, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0539.html)