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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 537

Text

DER LEHRER. 537

Zukunft; er lächelte und erinnerte sich plötzlich, dass er Lessing noch
nicht gelesen hatte.

»Muss ihn lesen « dachte er. »Im Uebrigen, wozu brauch’
ich das? Hol ihn der Teufel!«

Und von seinem Glücke müde, schlief er sofort ein und lächelte
bis zum Morgen.

Er träumte vom Stampfen der Pferdehufe auf Bretterboden;
träumte, wie man aus dem Stalle zuerst den Rappen »Graf Nulin«
herausführte, dann den weissen Riesen, dann dessen Schwester »Maika«

II.

»In der Kirche war es gedrängt voll und lärmend; einmal schrie
sogar Jemand auf; der Priester, der mich mit Manioussia traute, sah
durch die Brille das Volk an und sagte strenge:

»Geht nicht in der Kirche herum und lärmt nicht, sondern steht
ruhig und betet. Man muss Gottesfurcht in sich haben.«

Als Brautführer hatte ich zwei meiner Collegen, Manioussa den
Hauptmann Poljansky und Lieutenant Gornett. Der Chor sang wunder-
voll. Das Kerzengeknister, der Glanz, die Toiletten, die Officiere, die
Menge fröhlicher, zufriedener Gesichter und ein besonderes, ätherisches
Aussehen Manias, überhaupt die ganze Umgebung und die Worte der
Hochzeitsgebete rührten mich zu Thränen, erfüllten mich mit Triumph.
Ich dachte, wie ist doch mein Leben in der letzten Zeit erblüht und
wie hat es sich so schön poetisch gestaltet! Vor zwei Jahren war ich
noch Student, wohnte in billigen Chambres garnies in der Neglinnaja,
ohne Geld, ohne Verwandte und, wie es mir dann schien, ohne Zukunft.
Jetzt bin ich Lehrer am Gymnasium in einer der besten Gouvernements-
städte, versorgt, geliebt, verwöhnt. Für mich, dachte ich, hat sich diese
ganze Menge versammelt, für mich brennen diese drei Kronleuchter,
brüllt der Protadjakon, strengen sich die Chorsänger so an, und für
mich ist dieses junge Geschöpf, welches bald meine Frau heissen wird,
so jung, so graciös und so freudig. Ich dachte an unsere ersten Be-
gegnungen, die Spazierritte ausserhalb der Stadt, an die Liebeserklärung
und an das Wetter, welches wie auf Bestellung den ganzen Sommer
über wunderschön war, und dieses Glück, das mir einst in der
Neglinnaja nur in Romanen und Novellen möglich erschien, jetzt fühlte
ich es in Wirklichkeit, mir schien, ich griff es mit Händen.

(Schluss folgt.)


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 537, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0537.html)