Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 543
Peter Altenberg und sein neues Buch (Messer, Max)
Text
haben, was man ihrem Begehren gibt und jedem Fremden vorenthält.
Sie merken in ihrer Blindheit nicht, dass der höchste Besitz eines
Dinges ist, es zu erkennen, d. h. es zu lieben, dass das Eigenthum
des Künstlermenschen Alles ist, was er empfinden kann, und dass der
materiellste Besitz dem »homme médiocre« nicht so viel gibt, als der
flüchtigste Blick dem Künstler. »Gehört die Almwiese dem Hiasl, der
sie bewirthschaftet?! Sie gehört dem Wanderer, der sie empfindet.«
(«Wie ich es sehe«, S. 140.)
Altenberg’s Dichtungen sind ein Inventar seines geistig-seelischen Ver-
mögens. Wie ein durch unbekannte Erdtheile Reisender durchforscht er die
Gebiete der menschlichen Psyche, vor allem das dunkle räthselvolle Reich
der Frauenseele, das Jeder spürt und Niemand kennt. Wie mit grossen
elektrischen Reflectoren leuchtet er auf diese Welt. — Seine Skizzen
sind wie Gläser, durch welche der Lesende in das Diorama des Lebens
schaut. Freilich sind das keine gewöhnlichen Gläser — Fensterscheiben
— welche die Dinge naturalistisch zeigen. Sie zaubern aus ihnen ein
Neues. Dies Neue ist aber nichts Phantastisches, mit seelenloser
Phantasie Ergrübeltes, es ist das Wesen der Dinge. Er zeigt in der
Materie das Seelische, in der Seele das Materielle, das an die Ma-
terie Gebundene. Wie die Japaner die einfache und wesenhafte
Linie der Objecte zeichnen, sie so vom Zufälligen, Unorganischen
reinigen und wir erst durch sie die Landschaft, den Baum sehen
lernten, während wir früher ein Gewirre von Wiesen, Bäumen, Blumen
und Thieren in unserer Vorstellung hatten, so lehrt uns Altenberg die
Seelen schauen, die menschlichen Beziehungen schauen, alles was
noch unbewusst oder erst ungeordnet in uns liegt. Er gibt uns ein
Regulativ für das Leben, er öffnet unsere Augen, Ungekanntes er-
kennen wir jetzt freudig und sicher, Verborgenes wird uns klar. Seine
Bücher sind gleichsam von einer späteren Zeit herab uns gegeben.
Jünglinge, deren Seelen lockeres Erdreich für die Keime der Zukunft
sind, verehren es und Frauen, weil sie instinctiv die Bedeutungen und
Tiefen des Lebens fühlen, im Unbewussten wie die Genies auf der
Höhe der Menschheit stehen, während der Mann in der grausamen
Sphäre des Bewussten mühsam, irrend und voll Qualen kaum die An-
fänge der Menschheitsentwicklung vom Thiermenschen zum Gottmenschen
erarbeitet hat. — Durch die Beschränkung auf das Wesentliche, die
Essenzen alles Lebenden ist Altenberg’s Blick weit und sicher geworden,
so dass er in die letzten Lebenscentren dringt. Daher die Inbrunst
seiner Verkündigungen, die wie Glaubensworte der Erkenntniss tönen.
Wie ein Diamant, der tagsüber die billigen und verschwendeten Sonnen-
strahlen aufnimmt, um sie dann in der Nacht zu wunderbarem Glanz
gesammelt in höchster Intensität auferstehen zu lassen, so lässt er das
Sonnenlicht des Lebens in sich einfluthen und erhellt mit des Lebens
eigener Kraft, die er still in sich gesammelt und verarbeitet hat, seine
Finsternisse. Ein Lichtbringender und Leuchtender, ein Dichter und
Prophet der kommenden Menschheit — das ist Peter Altenberg! — —
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 543, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0543.html)