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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 544

Text

BOTTICELLI ALS FIN DE SIÈCLE-KÜNSTLER.
Von Erich Klossowski (Breslau).

Wie die Liebe ist die Kunst.

Jenes geheime und glühende Sehnen aus der Einsamkeit unserer
Seele nach uns selbst, nach dem tiefsten und eigentlichsten Kern
unseres Wesens ist ihr letzter Ursprung.

Anschauen wollen wir uns, erkennen unser Ich in seiner ewigen
Gestalt, die das verwirrende und wechselvolle Leben uns hinter dem
trügenden Schein der Dinge verbirgt. Erkennen wollen wir uns und
unsern Lebenssinn finden durch das Weib, das unser Wesen darstellt,
durch die Kunst, die unsere Seele kündet.

Und wie wir das Weib wohl bewundern, aber niemals lieben
können, das nicht etwas wenigstens von unserem Wesen in sich dar-
stellt, so werden wir auch die Kunst allein ganz verstehen und lieben
können, die in irgend etwas unsere Art ausdrückt.

Und wenn wir nun in der Kunst des süssen Botticelli so eine
Linie unseres Wesens zu finden glauben, wird das nicht für uns ebenso
charakteristisch sein wie etwa der Cultus rafaelischer Classicität für
jene kolossal gebildeten Generationen, die die Zeitgenossen der Corne-
lius und Kaulbach waren? Denn wie kommt es, dass wir den Floren-
tiner des Quattrocento so verstehen und lieben, als ob er wie wir ein
Sohn unseres wunderlichen und zugleich grossartigen fin de siècle wäre?
Dass er seinen Nachhall bei uns findet von Burne-Jones bis zu Thom.
Theod. Heine und den Barrissons? Sollte es nur eine unserer ver-
rückten Moden sein — oder nur jener Hauch von Frühlingspoesie, der
über seinem Werke liegt, was uns so gefangen nimmt? Oder ist es
nicht vielmehr dies, dass wir in ihm etwas uns im Tiefsten unserer
Seele Verwandtes empfinden, dass wir in ihm den Typus einer Ueber-
gangsperiode erkennen, den Menschen an der Scheide zweier Zeit-
alter, in dem Altes und Neues sich begegnen, mit einander ringen und
kämpfen, um schliesslich in wunderlicher Mischung ein Ganzes zu
bilden, das doch noch nicht das Neue ist: also der Decadent einer
sterbenden Cultur und zugleich der Begründer eines neuen Zeitalters!

Wie ein junger Riese stürmt in jenen Tagen der wieder er-
wachenden Welt der Genius der Zeit einher; er wirft sich brünstig an
die Brust der so lange verschmähten und verkannten Mutter Erde, er
sucht sie zu erobern in heissem, trotzigem Liebeswerben. Er schreitet
einher mit Blut und Eisen, er rüttelt an dem Prunkbau alter und ewig
scheinender Traditionen, er greift, eine kraftvolle Heroennatur, mit kühner
Faust nach den höchsten Kronen und Palmen. Aber dann mässigt sich
der wilde Siegeslauf, und wie er sich am Abend des Schlachttages

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 544, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0544.html)