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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 545

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BOTTICELLI ALS FIN DE SIÈCLE-KÜNSTLER. 545

niederlässt zu Ruhe und Einkehr, im Schatten kühler Lorbeerhaine, da
spinnt laue Frühlingsnacht in wundervoller Traumschönheit eine be-
rückende Zauberwelt um ihn; aus den Ruinen ihrer versunkenen Tempel
erhebt sich die so lange verbannte Huldgöttin, die geherrscht hatte, als
die Welt noch jung und schön war — und mit wehmüthig träumeri-
schem Lächeln flicht sie einen Kranz von blühenden Rosen um die
trotzige Stirn des jungen Eroberers: neben Donatello’s Georg stellt sich
Botticelli’s Frühlingsgöttin als Wahrzeichen dieser Epoche.

Man wird es unbestritten behaupten dürfen: Botticelli ist der
Erste, der den seelischen Gehalt der neuen Zeit ausdrückt. Seine Vor-
gänger sind die Eroberer, die Pionniere der neuen Kunst, ehrliche
Naturalisten, deren Ideal es ist, auf alle Weise die Illusion der wieder
gefundenen Welt zu geben. Bei Botticelli fühlen wir, wie es im Innern
jener Generationen aussah, die das erste gewaltige Daherwogen einer
neuen Zeit über sich ergehen lassen mussten.

Wie alle älteren Meister, hat auch Botticelli derartiges natürlich
nicht direct gesagt. Er hat im Allgemeinen dasselbe Stoffgebiet wie
die Anderen auch, und wo er Neues bringt, liegt das an den Auftrag-
gebern, die es verlangen. Aber wie er es sagt, was er unbewusst von
den Geheimnissen seiner Seele hineingemalt hat, das erzählt uns von
dem neuen Geist, von dem geheimen Sehnen und Wünschen der jungen
Generation.

Wenn Botticelli seine Madonnen malt, so wird das etwas völlig
Neues im Vergleiche zu den Fiesole oder Filippo. Was bei jenen Cult-
bild ist, die Schilderung paradiesischer Holdseligkeit oder anbetender
Verehrung — hier wird es Poesie, die das Dogma überwunden hat.
Er malt die Madonna nicht als Jungfrau, der der Gottesknabe zur
Pflege anvertraut ist, er schildert sie, wie sie auf die Stirn ihres
Bambino Küsse einer wehmüthigen gütigen Mutterliebe presst; es ist
das Weib, das eine Ahnung hat von dem seltsamen und schweren
Räthselleben. Er malt sie gerne in einem Hofstaat süsser, schlanker
Engelmädchen in bunten, blumendurchwirkten Gewändern, rosen-
geschmückte Kerzen oder Lilien in den Händen. Er malt Marmor-
nischtn und Guirlanden, undurchdringliche Hecken und darüber eine
zarte Frühlingsluft, und Alles ist lichter Farbenglanz, Klang fein ab-
gestimmter und delicater Töne — und wenn er dabei viel von seinen
Vorgängern gelernt, so hat er es doch in persönlichster Weise zu
etwas durchaus Neuem verarbeitet. Er gibt etwas von dem Hauch der
eigenen heissen Seele, wenn er durch seine Gestalten diese zitternde
Lebendigkeit giesst, die die Gewänder flattern lässt, die die sehr
zarten und feinen Körper bewegt, den graziösen Schwung der schwachen
Gelenke gibt, die Lippen wie zu leisem Gesang öffnet oder in den
nervösen Augenbrauen zuckt, während es wie schmerzliche Sehn-
sucht um den Mund liegt. Diese hektischen, schlanken Madonnen,
deren blutrothe Lippen sich üppig wölben, die so müde in der herben
Anmuth ihrer schlanken Glieder das Antlitz zur Seite neigen — das
sollen zwar selige Gestalten sein, aber sie haben nichts von dem para-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 545, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0545.html)