Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 549
Die magische Vertiefung der modernen Naturwissenschaft (Du Prel, Dr. Carl)
Text
NATURWISSENSCHAFT.
Von Dr. Carl du Prel (München).
I.
Es ist der Fehler der Wissenschaft oder vielmehr ihrer Vertreter,
vom jeweiligen Stand des Wissens immer zu gross, von seiner Ent-
wicklungsfähigkeit zu gering zu denken. Man überschätzt die gethane
Arbeit und unterschätzt die noch zu thuende. Es entspringt dies der
irrthümlichen Meinung, dass die wichtigsten Kräfte und Gesetze der
Natur uns schon bekannt seien und der Fortschritt der Wissenschaften
nur darin bestehe, eine immer grössere Anzahl von Naturvorgängen
unter diese Gesetze zu bringen. Wäre es so, so hätten wir nur eine
Erweiterung, aber keine Vertiefung unseres Wissens mehr zu erwarten.
Da nun aber gerade von der letzteren am meisten zu hoffen wäre,
wäre es sehr wünschenswerth, wenn wir vorläufig wenigstens die Ein-
sicht gewinnen könnten, dass es noch unbekannte Kräfte und Gesetze
gibt. Diese Einsicht lässt sich nur auf dem einen Wege gewinnen, dass
wir solche Phänomene untersuchen, die nach dem derzeitigen Stande
unseres Wissens als unmöglich erscheinen, weil uns eben nur die Ge-
setze bekannt sind, denen sie widersprechen, nicht aber die, welchen
sie entsprechen. Solche Phänomene muss es jederzeit geben, weil
die Natur von ihren Kräften Gebrauch macht, bevor der Mensch sie
entdeckt.
Im Mittelalter nannte man diesen Theil der unbekannten Natur-
wissenschaft Magie, in neuerer Zeit Occultismus. Man kann es dieser
modernen Bezeichnung vorwerfen, zu farblos zu sein; andererseits hat
das Wort Magie im Mittelalter einen Nebensinn erhalten, der zu ver-
meiden ist. Ohne zu bedenken, dass auch das Unbegreifliche gesetz-
mässig sein könnte, betrachtete man nicht nur ausserordentliche Vor-
gänge der äusseren Natur oft als Wunder, z. B. das Auftauchen von
Kometen, sondern auch die Aeusserungen der unbekannten Kräfte im
Menschen. Statt den Menschen selbst als die Quelle derselben zu
erkennen, dachte man sich dieselben als verliehen von Wesen sinn-
licher oder dämonischer Art. Die Geschichte der Religionen zeigt, dass
die Magier als Uebermenschen, als Wunderthäter galten, aber nicht aus
eigener Kraft, sondern durch göttlichen Beistand; und sie selber, wenn
sie sich im Besitze von Fähigkeiten sahen, die den übrigen Menschen
abgingen, waren der Selbsttäuschung ausgesetzt, sich für besonders be-
gnadete Abgesandte Gottes zu halten.
Wenn wir uns von solchen Missverständnissen frei halten, wenn
wir die Naturdinge und den Menschen als die Träger noch unbekannter
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 549, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0549.html)