Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 550
Die magische Vertiefung der modernen Naturwissenschaft (Du Prel, Dr. Carl)
Text
Kräfte erkennen, so ist gegen das Wort Magie zur Bezeichnung der
Aeusserung solcher Kräfte nichts einzuwenden. Die von Unwissenheit
triefenden Mönche, die einen Campanella 27 Jahre lang in verschiedenen
Kerkern gefangen hielten und ihn siebenmal der Tortur unterwarfen,
klagten ihn nicht nur der Ketzerei an, sondern auch der Magie, indem
sie seine ausserordentliche Gelehrsamkeit für eine Gabe des Teufels
hielten. Er selbst aber gibt von der Magie eine Definition, die ganz
richtig ist: Quidquid sapientes faciunt imitando naturam aut ipsam
adjuvando per artem, opus magicum dicimus. Priusquam ars vulgetur,
semper magia dicitur.1) »Alle Unbegreiflichkeiten der Natur und des
Menschen können doch nur gesetzmässige Aeusserungen unbekannter
Kräfte sein, und nur das soll das Wort Magie ausdrücken, dass sie
zur Zeit noch unbegreiflich sind.«
Unbekannt ist uns im Grunde genommen das Innerste aller
Naturdinge. Man sieht es dem Wasser nicht an, dass es unter gewissen
Bedingungen krystallisiren, unter anderen in Dampf verwandelt oder in
Gase zerlegt werden kann. Aus der Erfahrung und aus dem Experiment
wissen wir, dass es so ist; warum es aber so ist, können wir nicht
sagen. So haben alle Naturdinge ihre Latenzen, die mit ihrer Grund-
constitution in Zusammenhang stehen, und wenn wir sie durch das Ex-
periment aus ihnen herauslocken, zeigen diese Dinge nicht nur neue
Qualitäten, sondern auch neue Beziehungen zum Naturganzen können
uns offenbar werden. Wenn wir z. B. durch einen Leiter einen elektri-
schen Strom senden, so wird jener magnetisch, und zwar magnetisch
polarisirt, d. h. er offenbart jetzt eine Beziehung zum Erdganzen, zum
Erdmagnetismus. Der Mensch, als höchstes Naturproduct und der In-
begriff aller Naturkräfte, wird auch die zahlreichsten Latenzen haben.
Wenn wir ihn durch animalischen Magnetismus in Somnambulismus
versetzen, offenbart er neue Fähigkeiten, neue Beziehungen zur Natur,
die allen Gesetzen der Physiologie zu widersprechen scheinen, magische
Beziehungen, und es kann Gedankenübertragung, Hellsehen, Fernsehen
und Fernwirken auftreten. Es sind das nicht Wunder, sondern nur
Aeusserungen eines sechsten Sinnes, der aus der Latenz tritt. Der
Mineralmagnetismus könnte keine so durchgreifende Veränderung in den
Körpern hervorbringen, wenn er nicht dem innersten Wesen derselben
näher stünde als alle anderen auf diese Körper wirkenden Kräfte. Der
animalische Magnetismus könnte nicht so wunderbare Fähigkeiten des
Menschen zur Erscheinung bringen, wenn er nicht in dessen innerste
Essenz eindringen würde. Darum eben ist die Entdeckung Mesmer’s
für die Lösung des Menschenräthsels so wichtig, weil sie uns seine La-
tenzen offenbart, seine transcendentale Wesensseite, in die das Licht
unseres Selbstbewusstseins nicht dringt.
Reichenbach nennt den animalischen Magnetismus Od, und er
sieht darin den tiefsten Punkt, bis zu welchem wir in der Analyse des
1) Campanella: de sensu rerum. XI. c. 6.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 550, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0550.html)