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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 548

Text

548 KLOSSOWSKI.

Bildern noch einen grossen Zug: es ist etwas Ueberwältigendes in
dem seligen Wirbeltanz seiner Engel, in den Gestalten, die tief er-
schauernd unergründliche Geheimnisse ahnen und das Antlitz vor der
Fülle der Gesichte im Mantel bergen; in den glühenden Augen seiner
ausgemergelten Asketen oder in den schluchzenden Zuckungen seiner
Christusklagen. Aber dann geht er allmälig in seiner Kunst zurück; er
copirt sich selbst, macht die technischen Fortschritte nicht mit, ver-
einsamt mehr und mehr — und seiner Zeit entfremdet, tritt er viele
Jahre vor seinem Tode vom Schauplatze ab, und über ihn hinweg
schreitet die Jugend, die die Pfade verfolgt, die er selbst einst ge-
bahnt hat.

Mag Botticelli immerhin keiner von den ganz Grossen gewesen
sein — uns, die wir darauf verzichtet haben, mit rafaelischem Linien-
adel oder michelangelesken Verrenkungen eine epigonenhafte Grosse
vorzutäuschen, die wir von der Kunst nichts Grösseres verlangen, als
dass sie ihre Zeit ausdrücke — uns vermag er unendlich viel zu
sagen. Wir verstehen und lieben ihn so, wie er vor uns hintritt, mit
seiner uns verwandten, etwas müden Linie der letzten Stunde einer
Cultur, die im Frühling einer neuen Zeit stirbt.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 548, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0548.html)