Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 547
Botticelli als fin de siècle-Künstler (Klossowski, Erich)
Text
Botticelli vermag es nicht, die glückliche naive Lust zu schildern;
seine Venus unterscheidet sich nicht von seiner Madonna: sie hat den
blutigen Asketen am Kreuze hängen sehen und seitdem das Lachen
verlernt, dessen süsser Wohllaut von dem Einssein des Menschen mit
der Natur kündete. Vor dem wunderbaren, prächtigen Räthsel Leben
steht der Künstler in verwirrtem Staunen, aber er kommt vor lauter
Zögern und Wundern nicht dazu, es zu erfassen. Was er uns gibt, das
ist von dem üppig schäumenden Weine Leben nur ein Duft, aber
süsser, berauschender Duft.
Und so scheint es eine in seinem Wesen begründete Entwicklung
zu sein, wenn er, schliesslich, nachdem er sich überall vergeblich ge-
sucht, der schwülen Atmosphäre christlicher Mystik verfällt. Von Hause
aus zu religiöser Schwärmerei veranlagt und seit Jahren unter dem
Banne von Dante’s übersinnlicher Phantastik, ist er nur allzu gut vor-
bereitet, um von der christlich-reactionären Bewegung ergriffen zu
werden und jener zwingenden Persönlichkeit zu verfallen, die die letzten
Jahre des zu Grabe gehenden Jahrhunderts wie eine schwarze Nacht-
gestalt ihren Schatten über das sonnige, blaue Florenz wirft; mit der noch
einmal die Vergangenheit, das versunkene Mittelalter, sich zu einem
letzten Verzweiflungskampf gegen die neue Zeit erhebt.
Die prächtigen Medicäer sind vertrieben, Savonarola hat Florenz,
die Hochburg der Renaissance, in ein Königreich Christi verwandelt,
und das schönheitselige Volk, dem so erdenwohl und heidnisch frei
geworden war, sitzt in Sack und Asche. Wehe der Kunst, wenn sie
es jetzt noch wagt, die Fülle persönlichen Lebens, das beseelte All,
die Schönheit des Fleisches zu feiern. Reue und Busse, demüthige An-
dacht und Erhebung von der sündigen Erde, das sollen jetzt die Auf-
gaben der Kunst sein — alles Andere ist Frevel und wird als Werk
des Teufels den Flammen jener Autodafés geopfert, die alljährlich der
religiöse Wahnsinn des Dominicaners der Pöbelwonne der von ihm
fanatisirten Menge darbringt.
Und wie so viele andere Künstler, hätte auch Botticelli gewiss
seine süssesten Schöpfungen, hätte die Geburt der Venus und die
Allegorie des Frühlings in der Zerknirschung seiner Seele der Ver-
nichtung geweiht, wenn sie nicht in der abgelegenen Medicäervilla ge-
borgen gewesen wären. Er ist jetzt ganz verdüstert, tief melancholisch.
Mit leidenschaftlicher Inbrunst schürt er die Flammen seiner religiösen
Begeisterung, versenkt er sich ganz in die Welt der Mysterien des
Kreuzes, und er schildert in oft grellen Farben und masslos über-
triebenen Bewegungen die krankhaft gereizte Empfindsamkeit seiner
Seele. Er malt die Verzückungen des Paradieses, die Geburt des Er-
lösers oder die Klage um den Gemordeten, asketisch glühende Ge-
stalten, die auf das allein wahre Heil hinweisen. Er opfert künstlerisch
fast Alles dem Ausdruck dieser Ideenwelt: Farbe und Form kommen
oft dabei zu kurz, und seine Art wird im Gegensatz zu früher mehr
zeichnerisch, um in den strengen und grausamen Linien asketische,
schönheitsverachtende Härte darzustellen. Er hat dabei in den besten
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 547, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0547.html)